Timo Bracht: Neckarsteig statt Grand Canyon

Timo Bracht, der penible Tüftler, immer darauf bedacht, das für ihn beste Material einzusetzen, im Training und im Wettkampf. Berichte über das Wiegen von nassen Laufsocken sind geradezu legendär. Nur nichts dem Zufall überlassen, fokussiert, diszipliniert, erfolgreich, loyal gegenüber seinen Sponsoren und Mitstreitern, bodenständig und ohne Skandale, alles Eigenschaften, die viele Triathloninteressierte sofort mit Timo Bracht verbinden, wenn das Gespräch auf den siebenfachen Ironman-Sieger und dreifachen Europameister (in zwei Kategorien) kommt und seine sportlichen Leistungen einmal nicht im Mittelpunkt stehen. Was jedoch die wenigsten erahnen, ist seine sehr enge Bindung zu seiner Heimat, seinem Geburtsort und Lebensmittelpunkt, dem idyllisch am Neckar gelegenen Eberbach, unweit der ehemaligen kurpfälzischen Residenzstadt Heidelberg.

Die Morgensonne löst gerade die letzten Nebelschleier über den Neckar auf, als ich Timo Bracht – unweit der Burg Zwingenberg im Mündungsdreieck der Wolfschlucht zum Neckartal – auf dem Neckar-Radweg begrüße. Während die ersten Radtouristen eine weitere Station ihrer Tour zwischen Mannheim und Schwenningen aufnehmen, spielt Timo für mich den Touristenführer und vermittelt allerhand Wissenswertes und Interessantes über die Burg und die Region. Worte wie „dort drüben“ und „gleich hier“ verweisen gleichermaßen auf Geschichtliches, Privates wie Sportliches. Die Themen der sehr kurzweiligen Geschichten und Anekdoten wechseln so schnell wie Timo in der Wechselzone von einer Disziplin zur nächsten. Aber auch Erlebnisse mit den  Teamkameraden in seinem Trainingsrevier dürfen nicht fehlen. Schließlich markiert die Stelle, an der wir uns treffen, nicht nur den Wendepunkt für eine 15-Kilometer-Laufrunde entlang des Neckars, sondern auch den Ausgangspunkt eines sechs Kilometer langen Anstiegs auf einer wenig befahrenen Passstraße nach Neunkirchen.

Einer von uns
Wo immer Timo an diesem Montag auch auftaucht, er wird von Radtouristen, Wanderern und Anwohnern ständig und ohne Scheu gegrüßt oder angesprochen. Und wie nicht anders zu erwarten, nimmt er sich die Zeit für einen kurzen Plausch. „Das ist ganz normal“, merkt der 37-Jährige an und ergänzt mit einem Augenzwinkern: „Gerade bei meinen Laufeinheiten entlang des Neckars werde ich von den Radfahrern immer wieder gefragt, ob ich auf der Flucht sei beziehungsweise vor wem oder was ich denn so große Angst hätte! Leider kriegen viele die Antwort gar nicht mehr mit, weil ich zu Fuß meistens viel schneller unterwegs bin als die Genussradler!“ Die Region rund um Eberbach entpuppt sich in den kommenden Stunden als ein wahres Trainingseldorado. Gut asphaltierte und wenig befahrene Straßen und Wirtschaftswege, von topfeben bis steil, lassen das Herz eines jeden Radfahrers höher schlagen. Neben dem Radweg entlang des Neckars bietet das Umland sehr viele und auch anspruchsvolle Waldwege zum Laufen oder Mountainbikefahren. Lediglich der Neckar, in dem Timo Bracht in den Sommermonaten in Absprache mit der Wasserwacht immer wieder einige Open-water-Einheiten absolviert, hat es in sich und birgt so manche Überraschung. Angefangen von eifersüchtigen Schwänen bis hin zu über zwei Meter langen Welsen, die zwischen Zwingenberg und Eberbach bekanntermaßen ihr Unwesen treiben.

Von Heidelberg nach Bad Wimpfen
Kurze Zeit später und nur wenige Kilometer entfernt wandern wir auf dem Neckarsteig in Richtung Scheuerberg. An einem Aussichtspunkt mit einem herrlichen Blick auf die Stadt Eberbach und den Neckar erzählt der Modellathlet aus seiner Jugend, wie er als Kind mit seinem Großvater, der im Übrigen 102 Jahre alt wurde, vor 30 Jahren durch die heimischen Wälder streifte. In dieser Zeit, in der Globalisierung für die meisten Menschen noch ein richtiges Fremdwort war, entwickelte sich für den „kleinen Timo“ eine Heimatverbundenheit, die er sich bis heute bewahrt hat. „Heimat mag für viele spießig erscheinen und ein Image vom ‚Förster vom Silberwald‘ vermitteln, ich persönlich verbinde mit Heimat hingegen Identität, Inspiration, Ruhe und Zufriedenheit. Es hat mich nie gereizt, in eine Großstadt zu ziehen“, gibt Timo offen zu und lässt den Blick genussvoll über das Tal schweifen. Für jemanden, der gut und gerne das halbe Jahr auf Reisen ist, nur allzu verständlich. Schließlich hat er außerhalb Eberbachs genug Action. Gerade die Sommermonate, in denen Timo Bracht überwiegend in seiner Heimat trainiert, sind für ihn inspirierend, jede kleine Veränderung nimmt der Naturliebhaber wahr. Und so kam es, wie es kommen musste. Bei mehreren langen Läufen durch die heimischen Wälder fiel ihm auf, dass nur sehr wenige Wege als Wanderwege ausgewiesen waren. Zu Hause wälzte er anschließend mit seiner Frau Bettina etliche geografische Karten und nach kurzer Zeit wurde die Idee geboren, einen Wanderweg im Neckartal einzurichten. „Wandern ist zukunftsweisend, denn die Entschleunigung beim gemeinsamen Erleben der Natur tut in der heutigen schnelllebigen Welt nicht nur gut, der Weg schlägt auch im wahrsten Sinne des Wortes eine Brücke für allerhand große und kleine Probleme. Die Idee, etwas wirklich Nachhaltiges für die Region zu schaffen, hat uns nicht nur bestärkt, sondern geradezu beflügelt, in meinem Trainingsgebiet den Neckarsteig zu planen“, sagt Timo nicht ohne Stolz und zeigt mir unweit des Aussichtspunktes an einem Baum das Logo des in Form einer Flussschleife geschwungenen Ns. Dieses Projekt war und ist Timos Ausgleich für das immer Schneller, Höher und Weiter im Leistungssport, schließlich gibt es beim Wandern in der Natur keine Verlierer. „Wann immer sich die Gelegenheit bietet, nutzen wir die Zeit für Ausflüge auf dem Neckarsteig. Diese Stunden sind dann für uns alle inspirierend und geben Kraft für die Herausforderungen im Alltag“, gibt Timo Bracht einen kurzen Einblick in die Freizeitgestaltung im Kreis seiner Familie. Neben der Gesundheit siegen vor allem die Umwelt und der Naturschutz. Burgen und Schlösser, Berge und Schluchten, die Ausgangspunkte aller Wegabschnitte des 126,4 Kilometer langen Neckarsteigs zwischen Bad Wimpfen und Heidelberg sind mit dem öffentlichen Personennahverkehr zu erreichen. Mittlerweile wurden durch den Neckarsteig neue Arbeitsplätze geschaffen, ein Besucherzentrum errichtet, und auch die lokalen Gastwirte und Geschäftsinhaber freuen sich über zusätzliche Einnahmen. Timo Bracht hat es verstanden, sein Umfeld für seine Sache zu begeistern. Nicht umsonst hält er auch regelmäßig Vorträge in Unternehmen über Motivation und die punktgenaue Erreichung von Zielen. Wenn er über die Einzelheiten des erfolgreichen Tourismusprojektes spricht, das innerhalb von nur vier Jahren parteiübergreifend und über alle Stadt- und Kreisgrenzen hinweg umgesetzt wurde, strahlt er über das ganze Gesicht. Wenn das sein Großvater noch hätte erleben können …

Material
Bei einer längeren Unterhaltung mit Timo Bracht, der für den Einsatz neuer und innovativer Techniken bekannt ist, darf natürlich nicht das Thema Material ausgeschlossen werden. Dass er die Kompressionsstrümpfe im Triathlonsport und auch darüber hinaus etabliert hat, erfüllt ihn mit großem Stolz. „Anfangs wurde ich belächelt, manchmal auch mitleidig, aber letztendlich hat mir der Erfolg recht gegeben“, freut sich Timo Bracht über den Siegeszug der Kniestrümpfe. „Ob ein Athlet sie vor, während oder nach einem Wettkampf trägt, spielt prinzipiell keine große Rolle. Jeder Sportler sollte für sich die Vorteile erkennen und seinen ganz persönlichen Nutzen herausfinden. Zweiflern empfehle ich Tests nach der besten Wirkungsweise, indem sie nur an einem Bein einen Kompressionsstrumpf tragen.“ Angesprochen auf die sehr technikverliebten Triathleten, stellte Timo Bracht fest, dass GPS-Geräte, Wattmesssysteme, Hochprofillaufräder und sehr leichte Carbonkomponenten erst dann eine große Bedeutung bekommen und zum Einsatz kommen, wenn die Athleten vom Triathlonvirus richtig infiziert sind. „Gerade das macht doch den Triathlon und seine Sportler aus! Wenn man im Training oder Wettkampf jedoch irgendwann an den Punkt gelangt ist, an dem man seine körperlichen und psychischen Grenzen erreicht hat, dann bekommen diese Gadgets einen ganz anderen Stellenwert: Denn in diesen Momenten, in denen man nach zusätzlichem Sauerstoff ringt und die letzten Kraftreserven mobilisiert, um das Training zu beenden beziehungsweise die Ziellinie zu erreichen, spielen die Gadgets überhaupt keine Rolle mehr“, gibt Timo ehrlich zu. Viel wichtiger sei es, die vielen Tools und Hilfsmittel wirklich sinnvoll einzusetzen. „Denn was bringt es mir, eine Pulsuhr neuester Technologie einzusetzen, wenn ich beispielsweise die angebotenen Auswertemöglichkeiten gar nicht richtig nutze?“, beklagt Timo Bracht übertriebenen und falschen Technikeinsatz. „Letztendlich stellen die Hersteller nicht nur Produkte her, die den Athleten schneller machen, sondern ihn auch dabei unterstützen, sich an die Trainingsvorgaben zu halten und Verletzungen zu vermeiden.“

Kurz vs. Lang – Roth vs. Frankfurt
Die ewigen Diskussionen darüber, welche Langdistanz denn in Deutschland das bessere Rennen sei oder welcher Triathlet der einzig wahre Triathlet ist, hält Timo Bracht für überflüssig und unangemessen. So wie es in der Leichtathletik Spezialisten über 100 Meter, 10.000 Meter oder im Marathon gibt, konzentrieren sich im Ausdauerdreikampf einige auf die Windschattenrennen, andere auf die längeren Distanzen. Man kann und darf einen Usain Bolt ebenso wenig mit Haile Gebrselassie vergleichen wie Jan Frodeno mit Craig Alexander. Egal für welche Disziplin ein Athlet sich letztendlich entscheidet, beide Rennformate sind für Bracht gleich wertvoll, also soll ein jeder auch die Leistung des anderen respektieren, denn schließlich profitiert davon der Triathlonsport als Ganzes. Gerade für Einsteiger haben die kürzeren Distanzen eine ganz wichtige Bedeutung und ein jeder sollte sich immer vor Augen halten, nicht zu schnell viel zu viel erreichen zu wollen. Das häufig angestrebte „von 0 auf 226“ geht nach Aussage von Timo Bracht gar nicht, denn es birgt neben gesundheitlichen auch private Risiken, die nicht unterschätzt werden dürfen. Trotzdem wird es immer wieder Sportler geben, die diesen direkten Weg einschlagen werden.

Der Eventcharakter mit spektakulärer Streckenführung in den Großstädten, mit Großleinwänden an der Strecke, Live-Musik, bekannten Moderatoren sowie einer hochprofessionellen Vermarktung sind für den erfolgreichen Triathleten Fluch und Segen zugleich. „Einerseits profitieren der Sport, wir Athleten und die Industrie, jedoch geht der alte Charme, die Lagerfeuerromantik und die „alles easy-Mentalität“ immer mehr verloren!“, gibt Timo Bracht zu bedenken und weist darauf hin, dass gerade die kleinen, mit viel Liebe von Sportvereinen und Triathlonabteilungen organisierten Feld-, Wald- und Wiesenveranstaltungen dieses besondere Flair immer noch verbreiten. „Leider werden diese Events zunehmend mit denen von professionellen Agenturen ausgerichteten Veranstaltungen verglichen. Aussagen wie „da gab es ja noch nicht einmal einen Rucksack“ oder „für das Finisher-Shirt haben die zehn Euro extra verlangt“ stimmen mich traurig, denn hier werden Äpfel mit Birnen verglichen. Und das ist nicht gut für die Entwicklung unserer einzigartigen Sportart. Schließlich bilden genau diese Wettkämpfe die Basis für die Rennen in Frankfurt und Roth!“

Das ewige Streben um die Nummer eins bei den Langdistanzrennen in Deutschland umschreibt Timo Bracht salomonisch: „Roth mag sich zunächst vielleicht etwas ‚angestaubt-provinziell‘ anhören, ist es aber gar nicht. Roth ist sehr weltoffen und äußerst gastfreundlich, der Landkreis, die ganze Region und die Familie Walchshöfer haben – auch noch zu Zeiten des Ironman Europe – den Triathlonsport in Deutschland ins Rampenlicht geschoben, etabliert und als Challenge weiterentwickelt. Ohne Roth wäre ich wohl nie zum Langdistanztriathlon gekommen“, gibt Timo Bracht offen zu und beschreibt die fränkische Triathlonmetropole als die „erste Halbzeit“ seiner Karriere. In der „zweiten Hälfte“ dominierte dann der Ironman in Frankfurt, der für Bracht erste Wettkampf mit professionellem Eventcharakter und großem Spektakel inmitten einer Metropole. Die beiden Siege in der Bankenstadt waren für die weitere Karriere des 37-Jährigen richtungsweisend und die wertvollsten seiner Laufbahn. „Glücklicherweise pflege ich zu beiden Veranstaltern ein sehr gutes Verhältnis, sodass ich es mir heute – in der Verlängerung – aussuchen kann, wo ich starte“, gibt Timo Bracht selbstbewusst zu Protokoll und beendet diese Thematik, die an Stammtischen und auf den Social-media-Plattformen immer wieder von Neuem diskutiert wird.

Jetzt oder nie! Gegen Ende des recht ausführlichen Gesprächs kommt dann doch wieder der „altbekannte“ Timo Bracht durch, der auf seine GPS-Uhr schaut, sich selbst diszipliniert und darauf drängt, zum Ende zu kommen. Schließlich stehen noch vier Kilometer Schwimmen und 20 Kilometer Laufen auf seinem Trainingsplan. Der sonst eher ruhige und besonnen wirkende zweifache Familienvater zeigt sich mit Blick auf Kona ausgesprochen kampfeslustig und verabschiedet sich mit seinem Lieblingsspruch „jetzt oder nie“! Und mit dem zweiten Platz bei der Challenge Walchsee-Kaiserwinkl am darauffolgenden Wochenende zeigt der Eberbacher einmal mehr, dass er bei wichtigen Wettkämpfen immer für eine Top-Platzierung gut ist.

Timo Bracht befindet sich auf dem richtigen Weg zu seinem Saisonhöhepunkt nach Kona, abgerechnet wird jedoch erst am 12. Oktober: Ab 6.30 Uhr Ortszeit kann und muss Timo Bracht im „Glutofen Big Island“ unter Beweis stellen, dass er nach zwei sechsten und einem fünften Platz – trotz sehr starker Konkurrenz um den dreifachen Hawaii-Sieger Craig Alexander, Andreas Raelert, Marino Vanhoenacker und Sebastian Kienle – auch dort für eine Top-3-Platzierung gut genug ist.

Text: Klaus Arendt
Fotos: Power Horse

Quelle: tritime | Leidenschaft verbindet
(Ausgabe 6|2012)