Andreas Niedrig:
Es ist Dein Leben. Lebe es!

In dem Moment, als ich in die Hauseinfahrt einbog, kreuzte eine Frau meinen Weg, die gerade den Abfall nach draußen brachte. Das musste Frau Niedrig sein. Mir wurde ein kurzes freundliches Nicken entgegengeworfen, so als würden wir uns schon eine halbe Ewigkeit kennen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. 

Als ich einige Augenblicke später durch die offen gelassene Wohnungstür in das Haus eintrat und ein „guten Morgen“ in den Flur rief, wurde mein Gruß mit einem simplen „Kaffee?“ entgegnet. Grinsend ging ich den klappernden Geräuschen nach, direkt in die Wohnküche. Ich mochte schon immer diesen direkten ehrlichen „Ruhrpott-Menschenschlag“, fühlte mich sofort zu Hause und irgendwie an meine Kindheit, knapp 100 Kilometer weiter östlich, in der Nähe der Stadt erinnert, deren Namen man im Beisein eines Schalke 04-Fans besser nicht in den Mund nehmen sollte.

Seit neun Jahren beschäftige ich mich intensiv mit Triathlon. Gerade in meinen Anfängen habe ich nahezu jedes sich auf dem Markt befindliche Buch über diese Sportart gelesen. Jedoch muss ich zugeben, dass ich weder „Vom Junkie zum Ironman“ gelesen noch „Lauf um dein Leben“ im Kino gesehen habe. Ich erinnere mich an zahlreiche Artikel in Printmedien sowie diverse Kommentare und Talkshows im Hörfunk und Fernsehen. Für ein umfassendes Portrait des im vergangenen Oktober vom aktiven Profisport zurückgetretenen Andreas Niedrig sicherlich viel zu wenig und eigentlich denkbar ungünstige Voraussetzungen für meinen Termin. Eigentlich. Aber eine Aufarbeitung der Zeit, die mit Andreas Niedrig zuerst in Verbindung gebracht wird, stand auch gar nicht auf der Agenda unseres Gesprächs. Vielmehr ging es um das „Jetzt“ und die „Zukunft“. Aus diesem Grund werden Einzelheiten aus seiner Vergangenheit auch gar nicht thematisiert. Diejenigen, die an seiner Geschichte interessiert sind, suchen auf den folgenden Seiten vergeblich danach. Mit einer Ausnahme.

Therapie oder Strafe
Bereits während seiner Drogenzeit war sich Andreas Niedrig darüber im Klaren, dass er ganz viel erreichen kann, jedoch waren ihm das zu erreichende Ziel und somit der dorthin führende Weg völlig unbekannt. Nach der abgebrochenen ersten Therapie hatte er seine Träume und Ziele aus den Augen verloren. Stattdessen regierte die Angst, zu versagen und seiner kleinen Familie keine Zukunft bieten zu können. Er verlor sie aufgrund seines erneuten Drogenkonsums. Hinzu kamen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und die Sorge vor mindestens vier Jahren Gefängnis. Er wurde vor die Wahl gestellt: Therapie oder Strafe. Die Aussage seiner Frau Sabine, zu einem Neuanfang bereit zu sein, gab ihm die notwendige Hoffnung, den zweiten Therapieversuch erfolgreich zu bestehen. Vierzehen Monate später, mit einem um 43 Kilogramm auf 91 Kilogramm angestiegenem Körpergewicht und mit 40 gerauchten Zigaretten täglich kehrte er aus dem Sauerland zurück nach Erkenschwick. Jede körperliche Betätigung brachte ihn an seine physischen Grenzen. Das Herauftragen einer Kiste Wasser in den dritten Stock ohne abzusetzen war nicht möglich. An Sport verschwendete Andreas Niedrig keinen einzigen Gedanken. Viel wichtiger als zu Kräften zu gelangen, war ihm eine geregelte feste Arbeitsstelle. Aber das war gar nicht so einfach, hatte er doch ein paar Jahre zuvor eine Ausbildung zum Elektriker kurz vor dem Abschluss einfach hingeworfen. Auch wenn er unendlich viele Absagen erhielt und ihm die für eine Ausbildung erforderliche Qualifikation abgesagt wurde, ließ er sich nicht entmutigen. Er wollte unter gar keinen Umständen vom Sozialamt und anderen abhängig sein und schlug sich in den folgenden Monaten und Jahren mit Hilfsarbeiterjobs durch. Steinesortierer, Fleischfahrer und Möbelpacker. Keine Tätigkeit war ihm zu schade, denn sie gab ihm sein verlorenes Selbstwertgefühl zurück. Am Frühstückstisch erfüllte es ihn mit Stolz sagen zu können. Ich gehe zur Arbeit. Abends freute er sich auf die Frage „Wie war Dein Tag?“. Nach etlichen erfolglosen Anläufen wurde seine Hartnäckigkeit dann schließlich doch belohnt. Er erlernte den Beruf des Orthopädiemechanikers. Und während dieser, mittlerweile wieder besseren und schöneren Lebensphase kam es zu dem berühmt gewordenen 17-Kilometer-Lauf mit seinem Vater. Viele Menschen, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin, verbanden mit Andreas Niedrig die Person, die eine Sucht mit der nächsten Sucht besiegt hat. Einmal abhängig, immer abhängig. Bei vielen war der negative Unterton in diesen Worten förmlich zu spüren. Was jedoch die allermeisten bei seiner Lebensgeschichte gar nicht wissen beziehungsweise am liebsten vergessen, sind genau diese vier Jahre zwischen 1989 und 1993. Heute schmunzelt Andreas Niedrig darüber, dass viele über diesen sehr schweren Zeitraum hinwegsehen (wollen). Aber er kann und will auch niemanden, der eine eingerostete feste Meinung über ihn und seine Abkehr vom Drogenkonsum hat, reformieren. Viel wichtiger ist es ihm, dass er in diesen Jahren die Bedeutung des Wortes „zum“ gelebt und für das Leben gelernt hat. Andreas Niedrig hatte nach der vierzehnmonatigen Therapie nur ein Ziel: eine feste Anstellung, um für seine Familie sorgen zu können. Dieses zu erreichen war ihm so wichtig, dass er diesem alles unterordnete.

Wer …
Vorträge und Seminare, die Andreas Niedrig quer durch die Republik hält, beginnen in aller Regel mit einem Kurzfilm über seine Sportlerkarriere. Zwischen den einzelnen Bildsequenzen lauschen die Zuhörer den folgenden Worten von Konfuzius:

Wer sein Ziel kennt, kann sich entscheiden.
Wer sich entscheidet, findet seine Ruhe.
Wer seine Ruhe findet, ist sich sicher.
Wer sich sicher ist, kann überlegen.
Wer überlegt, kann sich verbessern.

Natürlich hört Andreas Niedrig nach diesen fünf Minuten Kommentare wie „das ist doch nicht normal“, „unmenschlich“ oder „wie kann man so etwas überhaupt schaffen“. Mit diesen ersten Reaktionen kann Andreas Niedrig jedoch sehr gut leben. Denn sie zeigen ihm, dass er bereits, ohne überhaupt richtig begonnen zu haben, seine allergrößten Skeptiker auf seine Seite gezogen hat. Zudem bieten sie ihm ideale Ansatzpunkte für den weiteren Gesprächs- und Seminarverlauf. Es geht ihm dabei gar nicht um die Herausstellung seiner sportlichen Erfolge, sondern vielmehr um die Definition von Zielen. Denn erst wenn diese klar und eindeutig sind, kann der Weg dorthin festgelegt und beschritten werden. Seine Lebensgeschichte und der Sport dienen ihm dabei lediglich als Metapher, als austauschbares Beispiel dafür, etwas zu erreichen, auch wenn es auf den ersten Blick noch so weit entfernt oder unerreichbar zu sein scheint. Der feste Glaube an sich, etwas erreichen zu können, öffnet Türen und lässt Barrieren überwinden.

Tun
Selbstverständlich reicht natürlich der Glaube an etwas alleine nicht aus. Viele bleiben auf der Strecke und erreichen das gesteckte Ziel nicht. Die Ursachen dafür können vielschichtig sein, aber die meisten hören oder geben sich dann auf, wenn es anfängt schwer zu werden oder wie im Sport eben, weh zu tun. Das Ergebnis der Ursachenforschung ergibt in aller Regel ein „die anderen haben Schuld an meinem Versagen“. Aber ist das wirklich der Fall? Kann und darf ich mein Aufgeben so einfach meinen Mitmenschen in die Schuhe schieben oder auf äußere Umstände abwälzen? Natürlich handelt es sich hierbei um die bequemste Form des Selbstschutzes, auch gegenüber dem direkten persönlichen Umfeld. Aber zielführend ist dies ganz und gar nicht. Auch im Verlaufe seiner Profikarriere hat Andreas Niedrig so manchen Rückschlag hinnehmen oder hartnäckige Verletzungen überwinden müssen. Sein Blick war jedoch stets nach vorne gerichtet. Er verweist in diesem Zusammenhang gerne auf eine chinesische Lebensweisheit. „Straucheln und hinfallen ist keine Schande, aber grundlos liegenbleiben ist schändlich.“ Auch im sogenannten tiefen Tal der Tränen hat er erfahren und gelernt, auf sein Leben Einfluss zu nehmen, es aktiv zu gestalten und nicht nur auf das zu reagieren, was um ihn herum gerade passiert. Er durfte und musste erfahren, wie hart es ist, dafür arbeiten zu müssen, seine Ziele zu erreichen. Man muss es nur tun. Andreas Niedrig dreht dabei die Buchstaben des Wortes „tun“ einfach um und schon bekommen diese drei Buchstaben eine ganz andere Bedeutung: „Nicht unnötig trödeln!“

Zukunft
Manch einer, der glaubt, dass Andreas Niedrig gerade in Schulen und Justizvollzugsanstalten mit erhobenem Zeigefinger über die Gefahren und Auswirkungen von Drogen referiert, dürfte überrascht sein, denn es gibt in seinem Repertoire keine einzige Folie zur „Suchtprävention“. Wie bei den Vorträgen und Seminaren in Universitäten, Handelskammern und Unternehmen, geht es ihm vielmehr um die noch nicht geschriebene Geschichte der Zukunft und die ganz persönlichen Ziele eines jeden einzelnen Zuhörers. Das Vergangene ist nicht mehr beeinflussbar. Das ist alles kalter Kaffee. Auch wenn Historiker heute noch versuchen, Verhaltensmuster einzelner Hochkulturen und Gründe für deren Untergang zu analysieren oder die wahren Ursachen für Kriege und Elend zu finden, können wir nur daraus lernen, um dieses Wissen für das Jetzt und die Zukunft zu nutzen. Denn nur so haben wir die Möglichkeit, die noch nicht geschriebene Geschichte der Zukunft zu beeinflussen. Und hier schließt sich der Kreis im Leben des Andreas Niedrig. Ähnlich wie beim „zum“ und „tun“ besitzt das Wort „Zukunft“ für ihn eine ganz besondere Bedeutung:

Z = Zielsetzung
U = Umsetzung
K = Kraft
U = Unterstützung
N = Nachhaltigkeit
F = Freiheit
T = Training

Die Geschichte unserer Zukunft ist noch nicht geschrieben. Andreas Niedrig versucht, seiner Zuhörerschaft nahe zu bringen, wie wichtig es ist, nicht zur, Ziele zu haben, sondern auch den Weg dorthin zu begehen. Entscheidend ist für ihn das sofortige Losgehen, nicht das auf den richtigen Moment oder den Jahreswechsel warten. Das Ziel kommt nicht von alleine auf einen zu. Je länger man mit der Umsetzung wartet, umso mehr Ausreden lassen sich finden, den guten Vorsatz nicht mehr in die Tat umzusetzen.

Tu es einfach
Andreas Niedrig zitiert in diesem Zusammenhang Sir Isaak Newton: „Der Menschliche Körper beharrt solange in seinem Zustand der Ruhe, bis er gezwungen wird, diesen Zustand zu ändern.“ Er betont jedoch, niemanden zu Veränderungen zu zwingen, er möchte lediglich aufzeigen, wie man den Zustand der Ruhe selbst verlassen kann. Dabei bedient er sich eines Faltplans im Scheckkartenformat. Der Aufbau ist denkbar simpel. Während auf der einen Seite allgemeine Tipps und Hinweise zur persönlichen Zieldefinition, Motivation, Umsetzung und Belohnung aufgeführt sind, können auf der Rückseite die Details des Vorhabens detailliert aufgeschrieben werden. Ganz wichtig dabei ist, am Ende der „Übung“ zu unterschreiben, das „Zielfaltblatt“ sichtbar ins Portemonnaie zu stecken, um bei jedem Öffnen an die Umsetzung der eigenen Ziele erinnert zu werden. Diejenigen, die sich dieser Aufgabe nur widerwillig stellen, fängt Andreas Niedrig damit ein, indem er sie darauf hinweist, dass die meisten Menschen den Großeinkauf im Supermarkt, den Sommerurlaub oder ihre Geburtstagsfeier bis ins letzte Detail durchplanen und alles genau aufschreiben, aber für ihr eigenes Leben nicht.

Wer im Leben kein Ziel hat, verläuft sich!

  1. Mein persönliches Ziel (Eindeutig und genau definieren.)
  2. Meine Schritte zum Erfolg (Meine kurz-, mittel- und langfristigen Etappenziele.)
  3. Mut zur Selbstreflexion (Mit welchen Konsequenzen müssen Sie bei der Zielerreichung rechnen? Sind Sie es wert?)
  4. Hindernisse in Sicht? (Können Hindernisse auftreten? Wie können Sie diese beseitigen?)
  5. Meine eigene Ziellinie (Setzen Sie sich ein realistisches Datum, zu dem Sie fertig sein wollen.)
  6. Unterschrift

Authentisch
Wenn Andreas Niedrig über seine Arbeit und die Zukunft spricht, fallen sehr häufig die Begriffe Liebe, Leidenschaft, Helfen, Loyalität, Füreinander-da-sein und Freundschaft. Wenn diese Worte seine Lippen verlassen, leuchten seine Augen. Die Begeisterung ist ihm anzusehen. Er verkörpert und lebt die Botschaft, die er zu vermitteln versucht. Ich bekomme keine einzige Sekunde den Eindruck, dass mir irgendetwas auswendig gelernt oder einstudiert präsentiert wird. Immer wieder fallen ihm neue Ideen und Projekte ein, die er noch gerne angehen und umsetzen möchte. Aber ganz ohne Sport geht es dann doch nicht. Wie zum Beispiel beim RTL-Spendenmarathon, in dessen Rahmen er als Mitglied eines Vierer-Teams in diesem Jahr das Race Accross America bestreiten wird.

Auf meiner Heimfahrt hörte ich im Radio einen Beitrag über die Eröffnungsfeier der Kulturhauptstadt Europas 2010: das Ruhrgebiet. Dabei ging der Reporter auf die besonderen Werte des dort ansässigen „Ruhrpott-Menschenschlags“ ein: Sich aufeinander verlassen. Sich gegenseitig in der Not helfen. Gemeinsam für eine Sache kämpfen. Liebe. Leidenschaft. Loyalität. Freundschaft.

Andreas Niedrig ist einer von ihnen.

Text: Klaus Arendt

Quelle: tritime | Leidenschaft verbindet (Ausgabe 1|2010)