Ob und wie man dehnen sollte, wird von Triathleten häufig angeregt diskutiert. Auch hochkarätige Trainer haben dazu teilweise unterschiedliche Meinungen, denn Theorie und Praxis sprechen häufig unterschiedliche Sprachen. Der Tenor lautet allerdings: Dehnen ist wichtig.
Klar ist aber auch, dass das Dehnen eine sehr individuelle Sache ist. Gut ist, was guttut. Unser Experte Christian Prochnow klärt auf.
Während der letzten 20 Jahre wurden viele wissenschaftliche Untersuchungen im Bereich des Beweglichkeitstrainings durchgeführt, die zum Teil widersprüchliche Aussagen zur gängigen Praxis als Ergebnis hatten. Ein Beispiel dafür ist, dass das Dehnen vor der Trainingsbelastung, das laut diverser Studien keinerlei Wirksamkeit für die anschließenden Einheiten bringen soll, in der Praxis von Sportlern sehr wohl durchgeführt wird. Auch ist bekannt, dass nicht nur das Dehnen der Agonisten bei Dysbalancen entscheidend ist, sondern auch das Kräftigen der Antagonisten (kurze Erklärung: Eine Bewegung entsteht durch eine Muskelkontraktion [= Agonist] und gleichzeitig eine Dehnung des Gegenspielers [= Antagonist]). Die Praxis lehrt dennoch, dass für Altersklassenathleten und Breitensportler trotz aller Studienergebnisse ein vermehrtes Dehnen zu einer erfolgreichen und vor allem verletzungsfreien Saison verhelfen kann.
Das Trainieren der Beweglichkeit spielt für Triathleten daher eine grundlegende Rolle. Es ist essenziell für die Entfaltung von motorischer Vortriebsleistung, wenngleich es zeitlich einen stiefmütterlichen Anteil im Vergleich zum Umfangstraining in den Kernsportarten einnimmt.
Gute Beweglichkeit zahlt sich aus
Im Allgemeinen wird zwischen der Langzeit- und Kurzzeitwirkung unterschieden. Im letzteren Fall werden beispielsweise eine effektivere Aufwärmphase und eine verbesserte Regeneration nach vorangegangenen Belastungen zusammengefasst. Die Langzeitwirkung stellt eine möglichst hohe Leistungskompetenz in der motorischen Beanspruchung sicher. Die Dehnung hat das Ziel, die Beweglichkeitseinschränkungen, die durch eine genetische Disposition sowie durch die tätigkeitsbedingte Umgebung vorliegen, zu reduzieren und in ein optimales funktionales Gleichgewicht zu bringen. Beim Laufen arbeitet die Muskulatur in einem Beanspruchungsbereich, der sich vorrangig auf den Dehnungsverkürzungszyklus der Hauptantriebsmuskulatur konzentriert. Die Voraussetzung hierfür ist, dass die Beweglichkeit in ihrer Funktion ein optimales Maß erreicht. Während in anderen Sportarten, wie beispielsweise beim Schwimmen, ein hohes Maß an Flexibilität im gesamten Bewegungsapparat erforderlich ist, wirkt sich diese beim Laufen eher kontraproduktiv aus. Die Verletzungsanfälligkeit in den passiven Strukturen des Bindestützsystems steigt an. Ein Stabilisationstraining kann hier entgegenwirken.
Verletzungen vermeiden
Egal, ob im Wasser, auf dem Rad oder beim abschließenden Laufen, eine individuelle hohe Beweglichkeit zahlt sich aus. Hier beobachte ich als Trainer gerade im Bereich der Sprint- und olympischen Distanz große Unterschiede, die sich auch im Leistungsvermögen widerspiegeln. Auch auf der Langdistanz kommen oft enorme Einschränkungen im Bereich der Schulter-, Brust- und Hüftbeugemuskulatur zum Tragen, die unter Umständen Verletzungen nach sich ziehen. Leider spüren viele Sportler erst nach einer Verletzung die Bewegungseinschränkungen, die durch ein stetiges Dehnen vermeidbar gewesen wären. Auch wenn die Wissenschaft in diesem Bereich wenig positive Wirkung auf die Leistungsfähigkeit bescheinigt, hat mir die Praxis immer gezeigt, wie wichtig das Thema allein schon hinsichtlich der Verletzungsprävention ist.
Vor der Einheit und nach der Belastung
Im Triathlontraining bietet sich das Dehnen (aktiv-dynamisch) im Rahmen eines Aufwärmprogramms vor dem Schwimmen oder vor einer Laufeinheit durchaus an. Die zu aktivierende Muskulatur, Sehnen und Gelenke werden durch kurze, zügige oder sogar schwungvolle Bewegungen hinsichtlich ihres Stoffwechsels positiv beeinflusst. Mitunter kann nach wahrgenommenen Verspannungen in der Muskulatur auf vereinzelte Muskelgruppen verstärkt (durch aktiv-statisches Dehnen) eingegangen werden. Durch das Auseinandersetzen mit dem Dehnungsschmerz werden zudem oft angehende Mikrotraumen im Muskel wahrgenommen. Besonders günstig für eine effektive Dehnung ist der Zeitpunkt nach dem Ausdauertraining ohne eine allzu große anaerobe Belastung. In Trainingslagern ist das oft die abendliche Einheit auf der Gymnastikmatte, welche idealerweise mit einem adäquaten Athletikprogramm vorbereitet wird. Der Stoffwechsel in der Muskulatur, in den Sehnen und Gelenken wird nach dem Ausdauertraining nochmals angekurbelt, und durch ein Beweglichkeitstraining können die passiven Strukturen in geringen, aber oft spürbaren Maßen entlastet werden.
Grundregel Nummer 1
Auch das richtige Dehnen will gelernt sein. Achten Sie daher immer auf eine korrekte Ausführung:
- Dehnen Sie stets einen erwärmten Muskel.
- Nutzen Sie eine sichere Position, um ein Abrutschen und ein Ausweichen zu vermeiden.
- Während der Dehnung ruhig und gleichmäßig weiteratmen, gegebenenfalls Atemtechniken verwenden.
- Dehnen sie den Agonisten und Antagonisten allmählich in gesteigerter Form.
- Aktiv-dynamische Schwungdehnungen sind in der Ausführung etwas komplexer. Lassen Sie sich diese zunächst von einem erfahrenen Profi erklären.
Wann bietet sich ein Dehnprogramm an?
- Nach lockeren aeroben Ausdauereinheiten mit moderater Belastungsdauer.
- Nach Athletik- und Rumpfstabilisationseinheiten.
- Vor harten Tempoprogrammen zum aktiv-dynamischen Aufwärmen.
Und wann nicht?
- Nach harten Tempolaufprogrammen.
- Nach Rad-Laufkoppelprogrammen im anaeroben Stoffwechselbereich.
- Nach überlangen Radausfahrten/Dauerläufen.
- Nach intensivem Krafttraining.
Stattdessen eignen sich zur Verbesserung der Regeneration – neben der Aufnahme von Regenerationsdrinks – Lockerungs- und Mobilisationsübungen.
Vorschau: Im 2. Teil stellen wir Dehnübungen vor und lassen Experten wie Wolfram Bott und Lubos Bilek zu Wort kommen.
Unser Autor Christian „Paule“ Prochnow beendete im August 2013 nach rund 17 Jahren seine Karriere als Sportler in der Ausdauersportart Triathlon. Während seiner Zeit als Leistungssportler erkämpfte er sich nicht nur bei den Olympischen Sommerspielen in Peking 2008 den 15. Rang, er absolvierte auch ein Studium an der Trainerakademie in Köln und erlangte dort im April 2012 das Trainerdiplom des DOSB. Sein Wissen und seine Erfahrungen stellt Christian Prochnow im Rahmen von „Fit mit Prochnow“ interessierten Triathleten zur Verfügung.
Foto: Mirko Lehnen | mirko-lehnen.com