Jonas Deichmann: Aerodynamisch, aber bequem

Challenge 120: Bike-Fitting Jonas Deichmann
Challenge 120: Bike-Fitting Jonas Deichmann

„Klassische Straßen-Zeitfahrer“ stellen ihr Arbeitsgerät in punkto Aerodynamik ohne „Wenn und Aber“ auf maximale Performance ein. Triathleten hingegen achten bei ihrer Sitzposition darauf, im Wettkampf nicht nur einen schnellen Radsplit „abzuliefern“, sondern auch die Basis für die abschließende Laufdisziplin zu legen, und zwar ohne muskuläre und orthopädische Einschränkungen. Während sich Triathleten in den ersten Tagen nach einer Mittel- oder Langdistanz regenerieren und langsam wieder ins Training einsteigen, absolviert der Abenteurer Jonas Deichmann seit dem 9. Mai 2024 jeden Tag eine Langdistanz. Am 5. September endet sein Projekt „Challenge 120“ – so der herausfordernde Plan – nach 120 Langdistanzen.

Doch bevor für Jonas Deichmann zwischen Februar und April in Südeuropa die heiße Vorbereitungsphase startete, war der 37-Jährige zu Gast im Offenbacher Zentrum für Bewegungsanalytik bei Schneider & Piecha. Dort ließ er sich von dem Bewegungsanalytiker, Sportbiomechaniker und Orthopädietechniker Jens Machacek über die Einflussfaktoren beim Bike-Fitting beraten und stellte sein Zeitfahrrad für das Projekt ein.

EINFLUSSFAKTOREN BIKE-FITTING

Jens, beobachtet man einen Wettkampf auf der Mittel- oder Langdistanz, stellt man spätestens in der zweiten Hälfte des Rennverlaufs fest, dass viele Triathleten die Sitzposition an ihrem Zeitfahrrad nicht halten können. Woran mag das liegen?

Verspannungen im Rücken-, Schulter-, Nacken- und Armbereich sprechen eine eindeutige Sprache. Zudem wird die Hauptschlagader zum Oberschenkel im Bereich der Hüftbeuger abgedrückt, und der Kopf fällt ins Genick. Das hat zur Folge, dass die Oberschenkel nicht optimal mit Sauerstoff versorgt werden und früher übersäuern. Aus diesem Grund ist die Sitzposition auf die Statur und die Beweglichkeit des Radfahrers auszurichten, damit er die neue Aeroposition nicht nur über 20, 40, 90 oder 180 Kilometer halten kann, sondern auch die optimale Radperformance auf die Straße bringt. Und die über die Trainingsjahre sich verändernde Beweglichkeit des Sportlers wirkt sich zwangsläufig auch auf die Sitzposition aus. Und deshalb setzt ein professionelles Bike-Fitting damit an, die Defizite zu erkennen, daran zu arbeiten und das Rad und den Körper immer in Einklang zu bringen. Es ist weitaus mehr als nur das Verändern einiger Stellschrauben am Equipment.

Und welche Stellschrauben nehmen Einfluss auf die Performance eines Triathleten?

Ausgangspunkt sind die Kontaktpunkte des Athleten mit seinem Zeitfahrrad, und das sind Füße, Gesäß, Hände und der Unterarmbereich in Höhe der Ellenbogen. Eine korrekte Rahmengröße vorausgesetzt, ist ein besonderes Augenmerk auf die Anbauteile Pedale, Kurbel, Sattelstütze, Sattel, Vorbau, Lenker und Extensions zu legen. Darüber hinaus ist auch eine korrekt durchgeführte Körpervermessung, eine Untersuchung des Bewegungsapparates hinsichtlich orthopädischer Fehlstellungen und der Dehnfähigkeit von Oberkörper, Rumpf und Beinen und muskulärer Defizite zwingend erforderlich. Um noch einen oben drauf zu setzen, wirken sich unterm Strich auch die Radschuhe, Dicke und das Material des im Triathlonanzug verarbeiteten Sitzpolsters, der Helm, das Pedalsystem, gegebenenfalls auch die Sonnenbrille, auf das Gesamtkonstrukt „ergonomisch optimale Sitzposition“ aus.

tritime Know-how: Bike-Fitting

tritime-Experte: Jens Machacek | Video: Isaak Papadopoulos

weiterführender Link: Gibt es die aerodynamisch perfekte Sitzposition?

HERAUSFORDERUNG „CHALLENGE 120“

Jens, was ist die besondere Herausforderung für Dich im Rahmen Deiner Zusammenarbeit mit Jonas Deichmann?

Durch seine bekanntesten Projekten Das Limit bin nur ich und Crossing America verfügt Jonas nicht über sehr viel Erfahrung in den Einzeldisziplinen, sondern auch über ein extrem gut ausgebildetes Körpergefühl mit. Meine Herausforderung liegt darin, dass er sich beim „Challenge 120“ auf fremdem Terrain bewegt. Die zweite Disziplin absolviert er auf dem für ihn ungewohnten Zeitfahrrad. Hinzu kommt, dass er unmittelbar nach dem Radfahren noch einen Marathon läuft, und das jeden Tag über vier Monate. Die orthopädische Belastung seines Bewegungsapparates ist nicht mit seinen früheren Projekten vergleichbar. All das ist bei der Beratung des Athleten und Einstellung des Zeitfahrrads zu berücksichtigen.

Was genau bedeutet das, und welche der eingangs aufgeführten Stellschrauben standen im Rahmen Deiner Beratung Anfang Februar ganz oben auf der Prioritätenliste?

Zielsetzung dieses ersten Termins war, eine Basic-Einstellung für die Aeroposition seines neuen Zeitfahrrades zu finden. Dabei stand – unter Berücksichtigung seines damaligen Status-quo auf dem Gebiet der muskulären Beweglichkeit – nicht nur eine bequeme und rückenschonende Sitzposition im Vordergrund, sondern auch die Vorgabe, den optimalen Druck aufs Pedal zu bringen. Mit entsprechenden Übungen zur Verbesserung seiner Beweglichkeit im Gepäck ging es für ihn in das Trainingslager nach Girona. Zwei Monate später war er dann zur finalen Feinjustierung in Offenbach. Dieser Termin umfasste dann erneut die ganze Bandbreite eines Bike-Fittings. Am Ende entschieden wir uns für eine nicht ganz so aerodynamisch gestreckte Position, sondern für eine Position, bei der Rad und Extremsportler so gut harmonieren, wie es der Körper für die 120 bevorstehenden Langdistanzen zulässt. Wichtig war dabei, dass der Organismus beim Pedalieren nicht behindert wird, also Hauptschlagadern und Blutgefäße offen sind, und es – unabhängig von der Gewöhnung an die Belastungen in den beiden Anfangswochen – zu keinen Verspannungen kommt.

Bike-Fitting ist bekanntlich ein fortlaufender Prozess. Sind im Verlauf des Projekts zusätzliche Bike-Fittings geplant?

Sicherlich wäre ein weiteres Bike-Fitting nach der Hälfte des Projektes wünschenswert, jedoch ist dies aufgrund der Besonderheit der „Challenge 120“ – allein schon aufgrund der täglich benötigten Regenerationszeit – nicht umsetzbar. Deshalb haben wir alles drangesetzt, sämtliche muskulären, orthopädischen und aerodynamischen Stellschrauben im Vorfeld zu optimieren, auch unter Berücksichtigung möglicher Überlastungen, Verschleiß und Beschwerden. Dies berücksichtigend fertigte ich ihm in seiner Schuhgröße für alle Eventualitäten individuelle Einlagen an, sowohl für das Radfahren als auch das Laufen. Je nachdem, welche Wehwehchen auftreten – beispielsweise Druckstellen, Achillessehnenreizung, Blasen –, steht ihm eine entsprechende Einlage zur Linderung der Probleme zur Verfügung.

Dieser Aufwand erinnert an die Entwicklungsprojekt der Laufschuhhersteller zum Ausreizen der eingesetzten Materialien zum Unterbieten von „Schallmauern“. Asics beispielsweise untersuchte im Vorfeld des Weltrekordversuchs der japanischen Marathon-Olympiasiegerin von Sydney, Naoko Takahashi, den Asphalt der Berliner Strecke, auf deren Grundlage dann unterschiedliche Gummimischungen entwickelt wurden, auch für alle denkbaren Wetterkonstellationen. Mit mehreren Dutzend verschiedenen Laufschuhvarianten im Gepäck reiste Takahashi 2001 nach Berlin und blieb als erste Frau knapp unter der damaligen Schallmauer von 2:20 Stunden. Erst unmittelbar vor dem Startschuss entschieden sich die Verantwortlichen, welches Modell mit welcher Materialzusammensetzung zum Einsatz kommen sollte.

Wie häufig steht Ihr seit dem Startschuss des Projektes in Kontakt? Welche Feinjustierungen habt Ihr noch vorgenommen, auch vor dem Hintergrund der in den ersten Tagen auftretenden Überlastungsprobleme und Schmerzen im Fuß?

Jonas und ich kommunizieren ein- bis zweimal in der Woche. Mit den anfänglichen Beschwerden hatte Jonas, der seinen Körper sehr gut kennt, schon gerechnet, schließlich muss sich der Organismus an die tägliche Dauerbelastung über vierzehn Stunden gewöhnen. Ich gebe aber zu, niemand von uns hat damit gerechnet, dass seine Füße in den ersten Wochen so stark angeschwollen sind, dass selbst die um eine Schuhgröße größeren Einlagen nicht mehr passten/funktionierten. Während Jonas per Express von Shimano und Hoka neue Rad- und Laufschuhe erhielt, fertigte ich in einer Nachtschicht die neuen Einlagen an. Mittlerweile passt alles und Jonas spult sein Pensum problemfrei ab.

Letzte Frage: Wie wirken sich diese enormen Belastungen beim Radfahren grundsätzlich auf die Muskulatur, Gelenke, Knochen, Knorpel, Bänder und Sehnen aus, kurzfristig wie langfristig?

Wenn alles passt und stimmig arbeitet, ermüdet zwar die Muskulatur, aber hinsichtlich der Gelenke, Knochen, Knorpel, Bänder und Sehnen dürften bei Jonas weder kurz- noch langfristig Schäden auftreten. Schließlich ist Radfahren eine runde, weiche Sportart, es sei denn, das Rad ist komplett falsch eingestellt, man zu tief und/oder zu gestreckt sitzt. Und hier – ich wiederhole mich gerne – haben wir im Vorfeld alle möglichen Stellschrauben – sowohl muskulär und technisch – optimal auf den Körper von Jonas eingestellt.

Interview und Fotos: Klaus Arendt