Natürliches Laufen vs. degenerierte Alltagstechnik

fussaufsatz_bremer_2Haben Sie sich in Ihrem Läuferleben schon einmal bewusst mit der Bedeutung der Armarbeit und der Rumpfstabilisierung beschäftigt? Und wie sieht es mit Ihrem Wissen um den Energietransfer beim Laufen aus?

 

In meinen Laufseminaren schaue ich bei diesen Fragestellungen durchweg in „entgeisterte“ Gesichter. Von einem haben die Läufer aber alle schon einmal etwas gehört: vom richtigen und falschen Fußaufsatz. Beim genauen Nachfragen fallen die Antworten dann aber doch eher zögerlich aus. Und dabei ist die Sache mit dem Fußaufsatz viel einfacher, als es manche glauben oder es uns glauben lassen wollen. Ein Grund mehr, den Fußaufsatz einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen.

Dynamisches Gehen
Beginnen möchte ich meine Ausführungen jedoch mit dem Fußaufsatz beim normalen, alltäglichen Gehen. Dabei wird der Fuß vor dem Körper mit der Ferse zuerst aufgesetzt, um anschließend nach vorne über die Zehen abgerollt zu werden. Eine Analyse des Bewegungsablaufs bei Mittel- und Langstreckenläufern im Amateurbereich zeigt, dass bei fast allen der Fußaufsatz identisch ist mit dem beim Gehen. Die Ursache dafür, dass es so viele Fersenläufer gibt, liegt auf der Hand: Die fangen – im wahrsten Sinne des Wortes – irgendwann „langsam“ an! Und bei dieser Lauftechnik handelt es sich „lediglich“ um eine dynamischere Form der gewohnten Gehtechnik. Also eine ganz natürliche Entwicklung: Ich gehe, also kann ich auch laufen! In diesem Zusammenhang sollten Sie sich jedoch mit den folgenden drei Fragestellungen beschäftigen:

  1. Wo wird diese scheinbar so natürliche Gehtechnik überhaupt eingesetzt?
  2. Wie lange gibt es diese bereits?
  3. Gehen kleine Kinder anders als Erwachsene?

(Barfuß) Im Gelände über Stock, Stein und Eis
Gehen Sie doch einmal in einem „unwirtlichen“ Gelände spazieren, beispielsweise im Wald, jedoch nicht auf den breiten, befestigten Wanderwegen, sondern im Unterholz über Stock und Stein. Wenn Sie dabei auch noch bewusst steilere Passagen nach oben und unten in Ihren Spaziergang einbinden, merken Sie nach wenigen Schritten, dass sich Ihre Gehtechnik völlig verändert hat. Anstatt raumgreifende Schritte mit einem aktiven Fersenaufsatz zu machen, heben Sie Ihre Füße vorsichtig an, um behutsam die Unebenheiten mit dem ganzen Fuß oder zunächst mit dem Vorderfuß zu ertasten. Diese „neue“ Gehtechnik verleiht Ihnen Stabilität und Sicherheit. Gleiches gilt auch für eine matschige oder vereiste Fläche: Fersenaufsatz? Nein danke! Sie möchten doch nicht ausrutschen. Und auch im trockenen, unebenen Sand wird Ihre Gehtechnik von den äußeren Bedingungen diktiert und entsprechend angepasst. All diese Beispiele zeigen auf, dass unsere scheinbar so natürliche Gehtechnik nur dort funktioniert, wo die Böden eben und nicht glatt sind, also auf Asphalt, gepflasterten Wegen und gemähten Rasenflächen.

Experiment 1
Ziehen Sie Ihre Schuhe aus und gehen Sie einmal barfuß oder mit Socken durch Ihre Wohnung. Dabei werden Sie keinen raumgreifenden Schritt oder Fersenaufsatz feststellen. Und wenn doch, dann spüren Sie bei jedem Schritt die Erschütterung durch den Fußaufsatz bis in den Kopf. „Erziehung durch die Füße“, so nenne ich diesen spannenden Teil meiner Laufseminare. Wenn Sie jetzt noch versuchen, barfuß langsam zu laufen, dann setzen Sie alle mit dem ganzen Fuß auf. Und damit alle Dämpfungssysteme aktiviert sind, ist dabei das Kniegelenk immer leicht gebeugt.

Degenerierte Alltagsgehtechnik
Ihre scheinbar so natürliche Gehtechnik mit dem raumgreifenden Schritt funktioniert also nur mit sehr gut im Fersenbereich dämpfenden Schuhen und auf ebenen, nicht glatten Böden. Damit ist die Frage, wie lange es diese Gehtechnik und die daraus resultierende Lauftechnik eigentlich gibt, sehr leicht zu beantworten: Seitdem es gepflasterte und asphaltierte Wege und Straßen gibt und die Menschheit begonnen hat, Rasenflächen zu mähen, also knapp 150–200 Jahre!

Für den weitaus längeren Teil der gesamten Menschheitsgeschichte gilt, dass – auch aufgrund der schlechten Fußbekleidungen – ein langer Schritt mit Fersenaufsatz durch das Umgebungsgelände nicht möglich war. Das Gehen bestand darin, die Füße hochzuheben, knapp vor dem Körperschwerpunkt flach aufzusetzen, um den Untergrund für die notwendige Stabilität ertasten zu können. Und wenn Sie jetzt an die afrikanischen Läufer denken, dann fällt Ihnen sicherlich auf, dass gerade dort der tagtägliche Untergrund anders ist als auf unseren flachen und ebenen Böden. Die Menschen konnten – ganz im Gegensatz zu uns – sich die natürliche Gehtechnik der vorangegangenen Menschheitsgeschichte erhalten. Das ist sicherlich ein weiterer Grund für die Überlegenheit der afrikanischen Läufer aus Kenia und Äthiopien. Haben wir also alle ein völlig falsches Verständnis von der natürlichen Gehtechnik? Ist unsere Alltagsgehtechnik nicht zivilisatorisch degeneriert anstatt natürlich, da sie nur unter bestimmten Bedingungen überhaupt einsetzbar ist?

Und wie steht es um unsere Jüngsten, wenn sie mit knapp einem Jahr das Laufen erlernen? Sie heben die Füße an, setzen diese flach auf, suchen die Stabilität und das Gleichgewicht, um dann den nächsten Schritt zu machen. Das ist das natürliche Gehen! Es wurde vor Zehntausenden von Jahren in der Evolution entwickelt, es ist im Bewegungsablauf unserer Kinder angelegt. Und dann dauert es circa zehn Jahre, bis die Kinder es geschafft haben, so zu gehen, wie es alle Erwachsenen tun …!

fussaufsatz_bremer_4Geschwindigkeit
Die Lauftechnik wird zusätzlich auch durch die Geschwindigkeit bestimmt: Der Fersenaufsatz kostet Zeit, und deshalb kommt kein (Lang-)Sprinter und kein Mittelstreckenläufer auf die Idee, mit der Ferse aufzusetzen, um anschließend über den ganzen Fuß abzurollen. Darüber hinaus gibt es noch viele Gründe mehr, die gegen den Fersenaufsatz sprechen. Beispielsweise nimmt beim Fersenläufer die intrazyklische Geschwindigkeitsvariation zu und führt aufgrund eines schlechten Energietransfers zu einer unökonomischen Lauftechnik.

Experiment 2
Machen Sie einmal aus dem Stand einen beidbeinigen Schlusssprung, und versuchen Sie, mit beiden Füßen gleichzeitig auf der Ferse vor dem Körper zu landen. Haben Sie den bremsenden Rückstoß deutlich gespürt? Die natürliche Aufsetzfläche des Fußes ist der Mittelfuß! Und wenn es schnell gehen soll, dann setzen Sie mit dem Vorderfuß auf. Der Fersenaufsatz ist ein degeneratives Produkt einer bewegungsfaulen, bequem gewordenen Gesellschaft. Und wenn Sie sich jetzt einmal in den verschiedensten Sportarten umschauen, dann sind die Kniegelenke der Athleten beim Auftreten bewegungsbereit gebeugt, wie bei allen schwarzafrikanischen Läufern. Ein Fersenläufer hingegen landet mit gestreckten Kniegelenken vor dem Körper auf der Ferse. Aber so kann bekanntlich kein Sportler agieren und reagieren.

Schlussfolgerung und „Neuanfang“
Die scheinbar moderne Gehtechnik wird nur unter bestimmten Umgebungsbedingungen eingesetzt und funktioniert dort auch nur mit dämpfenden Schuhen. Die natürliche Lauftechnik sieht allerdings so aus, wie es die afrikanischen Läufer nahezu im Gleichschritt demonstrieren: ein flacher Fußaufsatz, bei dem das gebeugte Knie die Dämpfungsfunktion übernimmt und nicht der industriell für die Ferse vorgesehene Dämpfungskeil. Diese Technik ist evolutionär angelegt, mit ihr lernen bereits die Kleinkinder gehen und laufen, ehe sie durch Schuhe verkümmert!

Wenn Sie meine bisherigen Ausführungen überzeugt haben, dann stellen Sie Ihren Fußaufsatz bitte nicht radikal von heute auf morgen um! Machen Sie dies behutsam, damit die neu und anders belasteten Strukturen sich auch langsam daran gewöhnen können. Auch wenn Sie mit der Mittelfußtechnik die Dämpfungspolster Ihrer Laufschuhe im Fersenbereich nicht mehr länger benötigen, müssen Sie sich nicht unbedingt ein neues Paar zulegen. Achten Sie bei der Umstellung jedoch auf die folgenden drei Grundregeln:

  1. Schritte bewusst verkürzen, sehr langsam laufen und kürzere Trainingseinheiten bevorzugen.
  2. Die Körperspannung so hoch wie möglich halten, um die Dämpfungswirkung des gesamten Systems maximal nutzen zu können.
  3. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf das Anfersen und den Kniehub: Je besser Sie anfersen, desto besser wird der Kniehub, und umso automatischer bauen Sie den Fersenaufsatz ab.

Text: Dieter Bremer
Fotos: Klaus Arendt

Dieter Bremer (68) studierte an der Pädagogischen Hochschule Wuppertal mit dem Abschluss der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen und anschließend in Köln an der Sporthochschule mit dem Abschluss als Diplomsportlehrer. Ab 1975 war Bremer mehr als 31 Jahre am Unisportzentrum der Technischen Universität Darmstadt und am Institut für Sportwissenschaft in der Sportlehrerausbildung tätig. Während dieser Zeit publizierte er mehr als 50 Artikel zur Methodik der Sportspiele – insbesondere im Fußball und Tennis – sowie der Trainingssteuerung in den Ausdauersportarten. Darüber hinaus trainierte er unter anderem Lothar Leder und die zweifache Olympiateilnehmerin Petra Wassiluk. Dieter Bremer führt seine Marathonprojekte und Laufseminare nach dem Motto „Wer Erfolge haben will, muss besser trainieren als andere.“