Jonas Deichmann: Ganzheitliche Bewegungsanalyse

Challenge 120: Bewegungsanalyse Jonas Deichmann
Challenge 120: Bewegungsanalyse Jonas Deichmann

Nachdem sich zum Millennium Laufbandanalysen zur Findung des persönlichen Idelschuhs immer mehr durchsetzten, testete die tritime-Redaktion bereits 2012 zehn Laufschuhe mit speziellen Messsohlen, um anhand der Druckbelastungsdaten die Reaktion des Fußes bei der Stand-, Flug-, Auftritt- und Abrollphase näher zu analysieren. Mittlerweile wurde aus dem damals angewandten System eine ganzheitliche Bewegungsanalyse, bei der die individuellen Laufdaten realtime am Monitor angezeigt, inklusive „Stärken und Schwächen“ der getragenen Modelle der verschiedenen Hersteller.

Während Christopher Mayer, Orthopädietechniker-Meister, Sensomotorik-Therapeut, Techniker für Sportorthopädie, zertifizierter Bewegungsanalytiker und Geschäftsführer des Sanitätshauses Schneider & Piecha in Offenbach, bei seinen Kunden den „optimalen“ Laufschuh auf Basis des Ergebnisses der Bewegungsanalyse herstellerunabhängig empfiehlt, liegt die Herausforderung bei der Beratung von Jonas Deichmann darin, den oder die passenden Schuhe aus dem Sortiment des Sponsors Hoka zu finden.

EINFLUSSFAKTOREN

Christopher, was umfasst eigentlich alles eine Bewegungsanalyse?

Die Grundstrukturen – also das Zusammenspiel von Knochen, Muskeln, Sehnen, Bändern und Gelenken – sind enorm wichtig, und deshalb machen wir immer statische und dynamische Aufnahmen. Fakt ist jedoch, und das zeigen die Untersuchungsergebnisse der vergangenen Jahre, dass die Dynamik immer die Statik schlägt. Auch haben wir festgestellt, dass gerade die Auswirkungen einer schlecht ausgebildeten Beckenmuskulatur vielfach unterschätzt werden. Das Becken ist und bleibt – und bei Triathleten noch viel stärker – der Dreh und Angelpunkt für einen beschwerdefreien Laufstil. Eine Fehlstellung im Becken, beispielsweise über eine Beinlängendifferenz, kann sich sehr schnell in den Rücken bis hoch zum Nacken, aber auch nach unten über das Knie bis zum Fuß auswirken. Ergänzend zu den üblichen Längen- und Abstandsmessungen erkennen wir anhand von Dehn- und Krafttests sowie Sprunganalysen unter Einbindung der Kraftvektoren sehr schnell, wie es um die muskuläre Stabilität des Sportlers steht. Wenn der Kunde dann noch mit einer Vorbelastung, beispielsweise einem 10-Kilometer-Trainingslauf in den Beinen, zu dem Termin kommt, umso besser. Neben dem geschulten Auge kommt bei der Gang- und Laufanalyse – barfuß und mit Laufschuhen und teilweise auch mit Straßenschuhen – natürlich auch jede Menge Technik zum Einsatz: Kraftmessplatten, Fußdruckmesssohlen, mehrere Videokameras und ein hochwertiges Laufband, die allesamt mit einer entsprechenden Software verbunden sind und bei der Auswertung der erhobenen Daten helfen. Darüber hinaus kann auch eine Wirbelsäulenvermessung durchgeführt werden, bei der die Auswirkung des Atemzyklus auf den Bewegungsablauf des Rückens berechnet wird.

Was passiert, wenn bei der Beratung nur auf die Fußstellung geachtet wird?

Um beispielsweise eine suboptimale Fußstellung auszugleichen, könnte ich dem Kunden sicherlich Tipps geben und einen passenden Schuh anbieten, versäume es aber, die eigentlichen Ursachen für diese Fehlstellung zu finden und zu beheben. Und die liegen bekanntlich meist woanders, im Beckenbereich und dem Rumpf. Leider leben wir in einer sitzenden Gesellschaft, und somit verwundert es auch nicht, dass im Ausdauersport und insbesondere bei Triathleten das Becken als Dreh- und Angelpunkt über Erfolg und Stillstand entscheidet. Das Schöne ist, dass die bei der Laufanalyse erhobenen Basisdaten auch beim Bikefitting verwendet werden können. Schließlich übernimmt beim Zeitfahren die ausgebildete und dehnfähige Rumpfmuskulatur, gepaart mit der Kraftübertragung aufs Pedal, eine überaus wichtige Rolle, damit die Aeroposition über die gesamte Distanz gehalten werden kann. Durch die ganzheitliche Analyse, auch in Verbindung mit einem parallel durchgeführten Bikefitting, zeigen wir dem Kunden nicht nur seine Schwachstellen auf, sondern geben ihm auch Hilfestellungen, Tipps und Übungen mit, um jene durch konsequentes Athletik-, Rumpf-, Stabi- und Krafttraining sowie durch ergänzende Faszienübungen zu beheben. Zudem beugt es Verletzungen vor.

Challenge 120: Bewegungsanalyse Jonas Deichmann
Challenge 120: Bewegungsanalyse Jonas Deichmann
weiterführende Links
Gut zu wissen: Gibt es den perfekten Laufschuh?
Bewegungsanalyse

HERAUSFORDERUNG „CHALLENGE 120“

Christopher, was ist die besondere Herausforderung im Rahmen Deiner Zusammenarbeit mit Jonas Deichmann?

Meine Herausforderung liegt darin, dass Jonas beim „Challenge 120“ – ganz im Gegensatz zu seinen beiden letzten Projekten Das Limit bin nur ich und Crossing America vorbelastet die Laufschuhe schnürt. Und zwar nicht nur von den bereits absolvierten Langdistanzen der vergangenen Tage, sondern vom Zeitfahren unmittelbar vorher.

Mittlerweile hat Jonas über ein Drittel seiner täglichen Langdistanzen absolviert. Wie hast Du auf seine anfänglich auftretenden Überlastungsprobleme und Schmerzen im Fuß reagiert?

Meine erste Reaktion war „oh nein“, hoffentlich ist das kein Gelenkerguss oder eine zu starke Überlastung. Ich gebe aber auch zu, dass ich schon mit Überlastungserscheinungen gerechnet habe, jedoch noch nicht zu einem so frühen Zeitpunkt. Glücklicherweise wird Jonas von einem kompetenten medizinischen Team vor Ort betreut, sodass wir auf Basis der Untersuchungsergebnisse neue Einlagen anfertigen konnten.

Darüber hinaus soll sein Fuß größer und breiter geworden sein? Ist dies ein natürlicher Effekt der Belastung?

In der Tat geht der Fuß – insbesondere mit zunehmendem Alter – tatsächlich ein bisschen in die Breite, und bei sehr hohen und intensiven Laufbelastungen auch entsprechend mehr. Besonders bei Athleten mit Hallux Valgus-Beschwerden oder genetisch „vorbelasteten“ Sportlern ist der Effekt eines sich „verbreiternden Vorfußes“ keine Seltenheit und häufig anzutreffen.

Bei seinen täglichen Instagram-Stories stelle ich fest, dass Jonas gerade morgens beim Gang zum Schwimmeinstieg und auch beim Marathon „etwas stakselig“ wirkt.

Sicherlich könnte man – bei einer längeren Beobachtung seines Bewegungsablaufs –Hinweise auf mögliche orthopädische Dysbalancen erhalten. Die Ursache ist – nach den beiden eher horizontalen ersten Disziplinen – sicherlich in der extrem hohen Laufbelastung zu suchen. Und nach den täglichen Zieleinläufen nimmt er diese muskuläre Belastung natürlich mit in seine Regenerationsphase, sodass gerade in der Früh seine Bewegungen noch etwas unrund aussehen.

Wie häufig steht Ihr seit Beginn des Projektes in Kontakt? Sind Feinjustierungen im Bewegungsablauf überhaupt möglich?

Mit den wirklich sehr guten Erfahrungen des Crossing America-Projektes und der umfassenden Bewegungsanalyse im Frühjahr, war die Entscheidung für seine Schuhwahl getroffen. Jonas entscheidet je nach Verfassung zwischen einem Stabilschuh für die eher müderen Phasen und einem stützenden leichten Modell seines Laufsponsers aus. Aktuell steht ein Schuhwechsel überhaupt nicht zur Diskussion. Jener sollte auch sehr wohl überdacht werden, schließlich benötigt der Bewegungsapparat eine gewisse Zeit zur Eingewöhnung an ein neues Laufmodell. Selbst bei wirklich schwerwiegenden orthopädischen Problemen sollte im ersten Step mit einer maßgeschneiderten Einlage versucht werden, die Routine der beiden verwendeten Laufschuhe nicht zu unterbrechen. Ein Modellwechsel ist in seinem Fall erst die zweite und allerletzte Wahl.

Du hast es bereits angesprochen. Der Laufpart ist bei Jonas‘ Projekt die orthopädisch herausforderndste Disziplin. Welche Bedeutung nehmen in diesem Zusammenhang Massagen und allgemeine Regenerationsmaßnahmen ein?

Auch wenn der medizinisch-wissenschaftliche Konsens hinsichtlich „wann, wie lange und welche Maßnahmen“ sehr kontrovers diskutiert wird, bin ich ein Befürworter des „wenn jemandem etwas gut tut, warum nicht?“ Allerdings ist diese für Altersklassenathleten allgemeingültige Aussage nicht auf das Projekt von Jonas übertragen werden. In seinem Fall sind unterstützende Regenerationsmaßnahmen essentiell, und Jonas macht das aus meiner Sicht sehr gut. Vergleichbar mit den den Radsportlern bei der Tour de France beschleunigt die Kombination aus zielgerichteten physiotherapeutischen Massagen, „klassischen“ Recovery Boots und ein Kältetherapy-System den täglichen regenerativen Prozess von Jonas.

Letzte Frage: Wie wirken sich diese enormen Belastungen beim Laufen auf die Muskulatur, Gelenke, Knochen, Knorpel, Bänder und Sehnen aus, kurzfristig wie langfristig?

Glücklicherweise hat Jonas über die letzten Jahre nicht nur seine Belastungsgrenzen verschoben, sein kompletter Bewegungsapparat hat sich stetig diesen Veränderungen angepasst und gewöhnt. Und das ist für mich der wohl alles entscheidende Punkt bei seinen Projekten im extremen Hochleistungsbereich. Vor dem Hintergrund, dass seine passive und aktive Muskulatur extrem gut ausgebildet ist, fängt sein „ausgebildeter“ Organismus mögliche Überbelastungen an Hüfte, Knie oder Sprunggelenke schneller ab als ein Breitensportler. Entlastend hinzu kommt sicherlich auch, dass Jonas sein Projekt ausschließlich im Grundlagenbereich absolviert. Und vielleicht plant Jonas ja ein zeitnahes MRT nach Abschluss der Challenge 120 und ein weiteres nach einem regenerativen halben Jahr später. Diese könnte sicherlich aussagekräftige Informationen über die möglichen Auswirkungen auf seinen Bewegungsapparat liefern, inklusive der Selbstheilungskräfte des Organismus.

Interview und Fotos: Klaus Arendt