Übertraining – ein Schreckgespenst, das über jedem regelmäßig trainierenden Athleten kreist, über das die meisten jedoch nur sehr vage Vorstellungen haben, zumal Ursachen und Symptome von Person zu Person völlig unterschiedlich sein können.
Am Beispiel zweier sich an der absoluten Belastungsgrenze bewegenden Trainingsgruppen möchte ich diese Thematik aufarbeiten und mögliche Ursachen aufzeigen.
Saisonziel Ironman Germany
Die Mitglieder der „Trainingsgruppe Lanzarote“ wählten als Saisonhöhepunkt den Ironman Germany in Frankfurt. Nach vielen erfolglosen Versuchen sollte dem Trauma der verfehlten Hawaiiqualifikation endlich ein Ende gesetzt werden. Bereits am Jahresanfang feilten alle an ihrer Radleistung. Sie trotzten dem kalten Winter. Vierstündige Radausfahrten waren keine Seltenheit. Sobald es auf einen Berg ging, wurde das Trainingsziel vergessen. Denn schließlich galt es, den Bergkönig zu küren. Erkältungen wurden kaum auskuriert, zu groß war die Sorge vor „verloren gegangenen“ Kilometern. Beim Trainingslager auf Lanzarote im Februar wurden sowohl die Umfänge als auch die Intensitäten nach oben geschraubt. Es dauerte nicht lange und es gab erste Streitereien in der Gruppe. Nach der Rückkehr hielt man das Trainingslevel weiter hoch. Erste Testwettkämpfe liefen erstaunlich schlecht. Geändert wurde das Verhalten jedoch nicht. Der Spaß am Sport tendierte stark nach unten und war teilweise komplett verschwunden. Symptome wie Schlaflosigkeit, aber auch eine gewisse Antriebslosigkeit bestimmten die nächsten Wochen. Immer öfter stellten sich einige die Frage nach dem Sinn des Triathlons. Der Saisonhöhepunkt in Frankfurt wurde für jeden in der Gruppe ein Reinfall. Meilenweit entfernt von dem erhofften Hawaiislot. Auch der weitere Verlauf der Saison und das Jahr darauf blieben weit hinter den gesteckten Erwartungen zurück.
Saisonziel Challenge Roth
Die „Trainingsgruppe Mallorca“, die als Saisonziel die Zehn-Stunden-Marke in Roth anstrebte, setzte sich bereits im November zur gemeinsamen Planung der bevorstehenden acht Monate zusammen. In einer Leistungsdiagnostik wurden Trainingsintensitäten bestimmt und definiert. Bis Anfang März standen außer Schwimmen und Laufen hauptsächlich Grundlagenausdauereinheiten auf dem Plan. Pulswerte wurden mit ganz wenigen Ausnahmen eingehalten. Crossläufe wurden als abwechslungsreiche intensive Einheit eingestreut. Auf dem Rad saßen die Athleten nur einmal pro Woche, und das wegen der schlechten Witterung auch nur auf der Rolle. Während des zweiwöchigen Aufenthaltes auf Mallorca wurde das Trainingsvolumen auf insgesamt 40 Wochenstunden erhöht. Die aus vier erfahrenen Triathleten bestehende Gruppe hatte sich schon nach zwei Tagen in zwei Zweiergruppen gespalten. Eine gewisse Spannung baute sich zunehmend zwischen beiden Teams auf, die am Morgen des zehnten Tages ihren Höhepunkt erfuhr, als es durch unbedeutende Nichtigkeiten am Frühstücksbuffet beinahe zu einer Schlägerei kam. Hinzu kam, dass sich die Muskulatur mit jedem Tag immer müder anfühlte. Der Belastungspuls überschritt nur noch schwerlich den GA1-Bereich. Jeder sehnte sich das Ende der Schinderei herbei. Zurück in Deutschland wurde in den ersten drei Wochen komplett locker trainiert. Im Anschluss daran verspürten alle bei nahezu jeder Trainingseinheit einen fast täglichen Leistungszuwachs. Den Saisonhöhepunkt in Roth haben alle in sehr guter Erinnerung, denn jeder konnte eine neue persönliche Bestleistung aufstellen.
Was ist eigentlich passiert?
Zwei Trainingslager, zwei Geschichten, jedoch mit zwei komplett unterschiedlichen Verläufen. Was war passiert? Wie kann es dazu kommen, dass es während intensiver Trainingsphasen und -einheiten immer wieder zu Konflikten zwischen den Trainingspartnern kommt? Hat diese verminderte Fähigkeit, mit unbedeutenden Problemen umgehen zu können, etwas mit der Trainingsbelastung zu tun? Warum zerbricht die erste Gruppe völlig, während es der zweiten gelingt, ihr Ziel zu erreichen? Haben die oben geschilderten Gruppen vielleicht zu viel trainiert und muss man schon von Übertraining sprechen? Viele Fragen, auf die ich versuchen möchte, in den folgenden Abschnitten eine Antwort zu finden.
Warum trainieren wir?
Grundsätzlich gilt es zu bedenken, dass jedes erschöpfende Training zunächst die Leistungsfähigkeit vermindert. Im Triathlon bedeutet dies: Man wird langsamer. Misst man beispielsweise durch einen kurzen Rampentest (Ergometrieform, in welcher die Leistung innerhalb von höchstens vier bis sechs Minuten auf ein absolutes Maximum gesteigert wird) die Leistungsfähigkeit vor einer Trainingseinheit und wiederholt den Test beispielsweise nach einem Zweistundenlauf, so erscheint es logisch, dass die Leistung deutlich niedriger wird. Nun hat der menschliche Organismus die Eigenschaft, die entleerten Speicher nicht nur wieder zum Ausgangsniveau aufzufüllen, sondern sogar darüber hinaus. Hinzu kommen eine verbesserte Koordinationsfähigkeit sowie eine erhöhte geistige Leistungsbereitschaft. Dies macht die Trainierbarkeit des Menschen aus. Zum Training gehören also Erschöpfung und Erholung ebenso zusammen wie Tag und Nacht. Es wird trainiert, um sich erholen zu dürfen und ein höheres Leistungsniveau zu erreichen.
In der Trainingslehre hat sich durchgesetzt, dass durch eine Erhöhung der Trainingsbelastung ohne vollständige Pause die Entleerung der Speicher und die muskuläre Ermüdung erhöht werden. Je mehr Training desto müder. Dies heißt natürlich auch, dass der Prozess des Erholens mehr Zeit benötigt. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der maximale Grad der Erschöpfung erreicht ist, wenn alle Speicher komplett entleert, alle Muskeln müde sind und der Geist auch nicht mehr will. Ein Training darüber hinaus macht überhaupt keinen Sinn.
Symptome
Die für die Regeneration (regenerare, lat.= Wiedererneuerung) nötige Zeit ist genetisch festgelegt und kann sehr unterschiedlich ausfallen. Ein gutes Trainingsprogramm wird durch eine individuell optimal festgelegte Relation aus Be- und Entlastung gekennzeichnet. Sobald diese Relation in einem Missverhältnis zu Gunsten der Belastung steht, wird der Organismus krank! Häufig betroffene Organsysteme können zum Beispiel das Nervensystem, der Muskelapparat oder das metabolisches System sein.
- Andauernder Rückgang der sportlichen Leistungsfähigkeit (zwingend)
- Störung des Schlafes (dauernde Müdigkeit, Schlaflosigkeit)
- Intoleranz besonders intensiver Reize
- Andauernder niedriger Belastungspuls
- (eventuell) Erniedrigung sogenannter stimulierender Hormone der Hypophyse (TSH, FSH)
- (eventuell) Erniedrigung von Leptin (Fetthormon)
- Störung der Stressbewältigung (praktisch immer)
Wie dieser Krankheitszustand genannt wird, ist von ärztlichem Fachgebiet zu Fachgebiet unterschiedlich und beschreibt allenfalls die auslösende Ursache beziehungsweise deren Wirkung. Ganz modern klingt das Wort „Burn-Out“. Dieses „Ausgebranntsein“ beinhaltet leider oftmals nur einen Teilaspekt des Zustandes. In der Psychiatrie spricht man von einer Erschöpfungsdepression, in der Inneren Medizin vom Fatigue-Syndrom wie zum Beispiel nach Infektionen und in der Sportmedizin vom Übertrainingssyndrom. So unterschiedlich diese Diagnosen auch sein mögen, allen Syndromen liegen nahezu identische Fehlfunktionen auf kleinster molekularer Ebene zugrunde. Es handelt sich immer um Krankheiten, die in die Hand eines erfahrenen Arztes gehören. Dieser wird nicht nur die Diagnose sichern, sondern auch noch weitere Erkrankungen ausschließen. Was bedeutet dies ? Auch bei bösartigen Erkrankungen (Krebs) oder gefährlichen Blut- und Stoffwechselleiden (Leukämie, Blutarmut, Diabetes) kann es zu Erschöpfungssyndromen kommen. Der rein sportmedizinische Ansatz wäre hier lebensgefährlich. Mein Leitspruch in meiner Praxis lautet oftmals: Der Sportler ist auch Mensch – auch ein Triathlet kann an „normalen“ Erkrankungen leiden.
Fotos: Armin Schirmaier
Dr. med. Christoph Simsch, niedergelassener Arzt in einer allgemeinmedizischen Praxis mit sportmedizinischem Schwerpunkt in Stimpfach bei Crailsheim/Baden-Württemberg ist Facharzt für Allgemein- und Sportmedizin. Der aktive Triathlet Dr. Simsch, der auch zum Anti-Dopingbeauftragten des Baden-Württembergischen Triathlonverbandes berufen wurde, betreibt seit über 30 Jahren Leistungssport. Seinen ersten Triathlon finishte der Mediziner 1985. Der vielfache Langdistanz-Finisher mit einer Bestzeit von 9:03 Stunden nahm dreimal bei den Ironman-Weltmeisterschaften auf Hawaii teil. Dr. Simsch ist Mitinhaber von SMC, einem Institut zur mobilen Leistungsdiagnostik.