Herr Doktor, mein Schienbein tut weh

Schmerzen am Schienbein. Sicherlich kennen viele Sportler, die intensiv laufen, dieses Zeichen ihres Körpers. Die Verletzungen reichen dabei von Entzündungen der Knochenhaut bis hin zu Ermüdungsbrüchen. Woher die Symptome kommen und was man dagegen tun kann, weiß Dr. med. David Möller.

Der Unterschenkel besitzt zwei Knochen. Das Schienbein (Tibia) und das Wadenbein (Fibula). Viele Synonyme sorgen für Verwirrung, wenn es um das Thema „Aua Schienbein!“ geht. Manche Ärzte unterscheiden das Tibiakantensyndrom vom Schienbeinkantensyndrom. Noch andere sehen eine Differenz zur Reizung der Schienbeininnenkante. Und ob das innere Schienbeinkantensyndrom einer weiteren Abgrenzung bedarf, ist auch nicht endgültig geklärt. Festzuhalten ist, dass die Mechanismen ähnlich sind und sich maßgeblich nur in der Lokalisation unterscheiden.

Es gibt zwei hauptsächliche Strukturen, die im Unterschenkel bei Überbeanspruchung empfindsam reagieren können. Zum einen ist dies die Knochenhaut, die alle Knochen des Menschen überzieht und nur an den Stellen unterbrochen wird, an denen zum Beispiel Sehnen und Muskeln ansetzen. Sie ist es, die den überwiegenden Teil der Schmerzen empfinden kann und nicht, wie man annehmen könnte, der Knochen selber.

Die Ursache der Überlastung
Die klassische Knochenhautreizung ist bei Läufern ‒ insbesondere bei Schmerzen an beiden Schienbeinen ‒ unwahrscheinlich. Viel häufiger handelt es sich um eine Überlastung der Unterschenkelmuskulatur an ihrem Ansatz am Knochen. Hier kann zum Beispiel der Fußheber (Musculus tibialis anterior) eine führende Rolle einnehmen. Bei Überlastungen, die sowohl akut (wie einmalig durch eine ungewohnt lange Distanz) als auch chronisch (durch beispielsweise zu große Umfänge in einer längerfristigen Wettkampfvorbereitung) sein können, ist dieser Muskel einer der ersten, dem die Kraft ausgeht. Da eine Ermüdung zum unzureichenden Anheben des Fußes führt, steigt dann auch die unmittelbare Gefahr zu stolpern und sich eine akute Verletzung zuzuziehen.

Ähnlich, aber seltener
Mit den „Zehenstreckern“ (Musculus extensor digitorum longus und Musculus extensor hallucis longus) setzen noch zwei weitere Muskeln am Schienbein an, die eine ähnliche Funktion erfüllen, aber seltener der ausschlaggebende Grund für Beschwerden sind. Das Anheben der Zehen (beziehungsweise isoliert des großen Zehs im Falle des Musculus extensor hallucis longus) führt bei Überbeanspruchung wiederum häufig durch ungewohnt lange Distanzen oder zu schnelle Steigerung der Trainingsumfänge zu langwierigen Beschwerden am Unterschenkel. In der überwiegenden Zahl der Fälle treten die Beschwerden in Form einer Knochenhautreizung oder -entzündung (Periostitis) an der Innenseite des Schienbeines auf, sollten sie auf unvorsichtige Trainingsgestaltung zurückzuführen sein.

Im Zweifel zum Fachmann
Man darf nicht außer Acht lassen, dass eine Entzündung eine Abwehr- beziehungsweise Reparaturreaktion des Körpers auf einen äußeren Reiz darstellt. Im Falle des übermotivierten Läufers handelt es sich um einen physikalischen Reiz, der mit den klassischen fünf Zeichen einer Entzündung zur Trainingsreduktion oder wenn irgend möglich zur Sportabstinenz führen muss. Im Zweifelsfalle lohnt es sich, einen Fachmann aus dem Bereich des Gesundheitssektors zurate zu ziehen, aber auch in der Selbstbeobachtung lassen sich die Symptome der örtlichen Rötung, Überwärmung, eine Schwellung, Schmerzen und die eingeschränkte Funktion häufig feststellen. Nicht zwingend müssen alle fünf Anzeichen vorliegen – bereits ein Teil des „Quintetts“ sollte zur Vorsicht mahnen und zu Konsequenzen in der Trainingsgestaltung führen. So lässt sich ein weiterer Schaden abwenden.

Die nötige Ruhe gönnen
Um es plastisch zu formulieren: Der Körper befindet sich in einer Stresssituation und benötigt Ruhe, da eine Schädigung vorliegt. Werden nun weiterhin (intensive) Reize gesetzt, greift der Schaden um sich und eine problemlose Wiederherstellung des Ursprungszustandes wird zusehends unwahrscheinlicher. Durch Hormone werden bei einer Entzündung unter anderem Fresszellen an den Ort des Geschehens gelotst. Hier kämpfen sie mit Unterstützung weiterer Mechanismen gegen die Konsequenzen der Überreizung, wie zum Beispiel ein dickflüssigeres Blut, welches wiederum eine Folge der verengten Blutgefäße ist. Insgesamt handelt es sich um eine langwierige Verletzung mit möglichen dauerhaften Verläufen bei Missachtung und eventuell nicht mehr umkehrbaren Folgen.

Der Stress- oder Ermüdungsbruch
Einen Schritt weiter geht sodann eine andere gängige Verletzung des Schienbeins. Der Stress- oder Ermüdungsbruch (insbesondere am Fuß auch synonym als Marschfraktur bezeichnet) ist oft das Ende der Fahnenstange in einer Reihe von Beschwerden und deren Nichtbeachtung. Seltener als die akute Überlastung ‒ unter Umständen begünstigt durch eine Einwirkung von außen, wie zum Beispiel ein Stolpern über Baumwurzeln – stellt er in der Mehrzahl der Fälle eine große Herausforderung für Röntgenärzte dar. Dies liegt an der oft im konventionellen Röntgen nicht sichtbaren Bruchstelle. Normalerweise bleiben die Knochenenden trotz des Bruches stabil aufeinander. Erst eine Reaktion der Knochenhaut, welche erst Wochen später ausreichend ausgeprägt sein kann, deckt die wahre Ursache der dann schon lange bestehenden Schmerzen auf.

Die Sinnhaftigkeit einer teuren Diagnose
Der Vollständigkeit halber muss auf die Möglichkeit einer Magnetresonanztomografie (MRT) zur Diagnostik hingewiesen sein. Allerdings ist in diesem Fall die Frage nach dem Aufwand und Nutzen zu stellen. Es gibt keine therapeutische Konsequenz. Ohne die eindeutige Diagnose eines Ermüdungsbruches lautet die Therapie: Trainingspause. Selbst nach der Absicherung durch die Untersuchung in der Röhre schaut man trainingstechnisch nicht weniger in die selbige. Für Kosten, die nicht unter 500 Euro liegen, hat man nun einen Befund und darf trotzdem nicht laufen. Ob es dann nicht sinnvoller ist, in einen Aqua Jogging-Gürtel und eine Dauerkarte des örtlichen Schwimmbades zu investieren? Da diese Ausgaben von der Krankenkasse nicht übernommen werden müssen, darf man sich in Pfadfindermanier diese Sparsamkeit zusätzlich als die gute Tat des Tages vermerken.

Bei erhöhtem Platzbedarf
Weitaus seltener, aber dafür umso schwerwiegender ist das Kompartmentsyndrom. Hierbei handelt es sich um eine Schwellung der Muskeln, die in den meisten Fällen nach Knochenbrüchen auftritt. Es können aber auch Überlastungen durch Sport der Auslöser sein. Die Muskeln liegen in derben Gewebestrukturen. Diese Muskellogen dehnen sich entgegen den anschwellenden Muskeln nicht aus. Sie engen die Muskulatur ein, obwohl diese kurzfristig durch das zunehmende Volumen einen erhöhten Platzbedarf hat. Dies führt zu einer Unterversorgung der betreffenden Strukturen, unter anderem weil eine ausreichende Versorgung mit Sauerstoff nicht mehr sichergestellt werden kann. Beim akuten Kompartmentsyndrom durch Brüche, Quetschungen oder Operationen ist in den meisten Fällen eine Spaltung der begrenzenden Logen die einzig effektive Therapie.

Auf der Straße der Heilung
Anders verhält es sich beim funktionellen Kompartmentsyndrom des Sportlers. Erst einmal greift, wie bei vielen akuten Verletzungen, die PECH-Regel. Pause, Eis, Compression und Hochlagerung bringen oftmals Linderung und führen auf die Straße der Heilung. Knifflig wird es nun bei einer weiteren Möglichkeit, den Krankheitsverlauf günstig zu beeinflussen. Natürlich ist auch in diesem Fall eine Entlastung wichtig. Da aber eine leichte Belastung zu einer verbesserten Durchblutung und damit Sauerstoffversorgung der sogenannten Faszien führen würde, geistert auch diese ergänzende Maßnahme immer wieder durch Therapieempfehlungen.

Von Pech und Glück
Auf keinen Fall darf die sportliche Betätigung im belastenden oder gar anaeroben Bereich stattfinden. Sollte Milchsäure (Laktat) angehäuft werden, hätte dies den gegenteiligen Effekt und würde den Gesundheitszustand weiter beinträchtigen. Im Zweifelsfall sollte immer den vorsichtigen, konservativen Behandlungen der PECH-Regel der Vorzug gegeben werden, und dann hat man das Glück, bald wieder trainieren zu können. Bis dahin finden eventuell der Aqua Jogging-Gürtel und die Schwimmbadkarte auch hier eine weitere Verwendungsmöglichkeit.

Autoren: Dr. med. Ralf Möller und Dr. med. David Möller
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