Trainieren mit Brett Sutton

Brett Sutton – auch genannt „The Doc“ – ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten Trainer im Triathlonzirkus. Derzeit feiert die Schweizerin Daniela Ryf unter seiner Federführung große Erfolge. Nicola Spirig gewann mit ihm als Coach die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in London 2012, und auch Caroline Steffen und Chrissie Wellington feierten bisher ihre größten Erfolge mit ihm als Trainer. Aber auch ganz normale Altersklassen-Athleten können ein Trainingscamp beim australischen Wundertrainer buchen. Jörg Schneider hat sich ein Camp in St. Moritz etwas genauer angesehen.

Für sieben Wochen von Mitte Juli bis Ende August besteht die Möglichkeit, mit Brett Sutton, seinem Trainerteam und der Profi-Trainingsgruppe in der Höhe von St. Moritz zu trainieren. Der Deal ist ganz einfach: Eine Woche kostet 300 CHF und beinhaltet das Trainingspaket – um den Rest (Anreise, Unterkunft, Verpflegung etc.) muss sich jeder Athlet selbst kümmern.

Ein Wort zu Jörg Schneider: Jörg Schneider ist ein Triathlet der ersten Stunde. Er betreibt Triathlon seit 1985 und hat auch außer halb des Triathlon im Multisportbereich so ziemlich alles ausprobiert. Er kann daher auf sehr viel sportliche Erfahrung zurückgreifen, wenn es um das Thema Training geht. ‏Außerhalb des Triathlon-Coachings schult er als Management-Trainer in Bereichen wie Gesprächs- und Verhandlungsführung und hält Vorträge zum Thema Spitzenleistung.

Wo lag mein persönlicher Fokus?
Erstens wollte ich den Meister-Coach von unzähligen Champions persönlich kennen lernen, aus nächster Nähe anschauen, was er wie trainiert und vor allem sehen bzw. spüren, was er vielleicht anders macht als andere. Und zweitens war mein Schwimmen dieses Jahr besonders schlecht und ich erhoffte mir ein paar Tipps zu technischen Verbesserungen.

Standardtraining gibt es nicht
Die Woche beginnt am Montagmorgen um 08.00 Uhr, wenn das öffentliche Bad in
St. Moritz extra zwei Stunden vor dem offiziellen Einlass öffnet. Dann gibt es die einzige gesetzte Trainingseinheit des Tages. Die Profis schwimmen auf den Bahnen 1 und 2. Die Age Grouper daneben auf 3 und 4. Alles geht recht informell und locker zu. Robbie Haywood (die “rechte Hand”) und seine Frau Susie heißen einen willkommen und führen recht ungezwungen und rasch in das Procedere ein. Von den Profis bekommt man nur am Rande etwas mit. Sie arbeiten permanent mit Brett und werden höchst individuell betreut.

Und hier liegt auch schon einer der großen Unterschiede zu anderen standardisierten Trainingsprozessen: Es gibt keinen Standard! In der Tat weiß kein Athlet (nicht einmal eine Nicola Spirig oder Daniela Ryf), bis zum Ende der Schwimmeinheit, was sie den Rest des Tages trainieren. Menschen mit hohem Bedürfnis nach Sicherheit und Struktur werden anfangs verrückt – mir liegt so eine Vorgehensweise allerdings und ich gehe im Grunde in meinen Coachings ähnlich vor.

Training ohne Stoppuhr
Und auch sonst werden viele Standards rigoros in Frage gestellt: Werden Zeiten genommen? Natürlich nicht! Wird zu irgendwelchen festen Startzeiten losgeschwommen? Natürlich nicht! Wird in einem festgelegten Tempo geschwommen? Natürlich nicht! So ziemlich alles, was im Schwimmtraining (und auch in den anderen Disziplinen) als “Standard” gilt, wird hier anders gemacht, ist geradezu verpönt. Genau wie ich das ja ohnehin nach mehreren Jahren des Zahlenanalysierens irgendwie automatisch und eher instinktiv weggelassen habe, verbannt Sutto auch alle technischen Gadgets. Ja, auch eine simple Stoppuhr.

Der Grundgedanke dieses Trainings
Wir betreiben Triathlon. Das ist ein (weitestgehend – mal von den Formaten der World Triathlon Series abgesehen) rein aerober Sport. Und gerade auf den längeren Distanzen sind die Tempi ja regelmäßig sehr bis extrem langsam. Wir laufen alle unseren Marathon im gemütlichen GA1-Zockel-Tempo, oder nicht? Die Idee ist folgende: Wir schwimmen nicht wirklich schnell (in Bretts Augen tut das kein einziger Triathlet: Schnell ist das, was Spitzenschwimmer über 100 Meter Kraul hinlegen). Ebenso steht es mit den Geschwindigkeiten beim Radfahren und Laufen. Im Vergleich zu den Disziplin-Spezialisten laufen wir beispielsweise bestenfalls einen 2:40-Marathon, aber eben keinen in 2:05 Stunden. Dementsprechend – und ich konzentriere mich hier auf die Mittel- und Langdistanz – gilt es, das aerobe System maximal zu trainieren.

Häufig werden die falschen System trainiert
Und hier liegt ein Unterschied zu anderen Ansätzen: Welche Rolle spielt es, wie schnell wir irgendwelche Intervalle unter völlig anderen (Labor-) Bedingungen auf der Bahn gelaufen sind? Es hilft einem ganz allgemein nicht weiter, wenn man die völlig falschen Systeme trainiert. Also warum mit einer Herzfrequenz von 170 trainieren, wenn ich in einem Mittel- oder Langdistanz-Rennen doch eh’ nie über HF 140 komme (in meinem Fall)? Die Kunst ist es, maximal ökonomisch bei HF 140 zu laufen.

The Doc, wie er liebevoll genannt wird, sieht Triathlon als einen Sport an und nicht drei Sportarten, die hintereinander ablaufen. Analog wird jede Einzeldisziplin mit dem Hintergedanken trainiert, wie sich das auf die Gesamtperformance auswirkt. Mein Lernpunkt hieraus ist unter anderem, dass ich meine Schwimmfaulheit ablegen muss und nicht nur an die eine oder zwei Minuten denke, die ich vielleicht auf 3,8 km schneller schwimmen könnte, sondern lieber daran denken sollte, was das bereits für Auswirkungen auf mein Radfahren haben könnte. Ansonsten ist das Training auch bei Sutto keine “Rocket Science”. Selbstverständlich gibt es da nichts mystisches in seinem Trainingsaufbau. Aber alles hat erstens Methode und ist zweitens höchst individuell. Er schaut tatsächlich jeden Athleten jeden Tag auf’s Neue an und „verabreicht“ je nachdem, was er sieht, seine Einheiten.

Individuelles Training ist angesagt
Grundeinstellung ist hier dieselbe, wie in meinem Job als Kommunikationstrainer: Was bringt diesem Menschen vor mir JETZT am meisten? Anders als bei den meisten Menschen ist eine klare Zielorientierung unübersehbar: die Athleten, die sich hierher verirren, wollen sich natürlich alle verbessern, haben Ziele, machen das eben nicht nur aus dem reinen Spaß.

Statt 35 verschiedene “Trainingszonen”, gibt es beim Doc nur DREI Bereiche: Die sogennanten drei Ms – MODERATE, MEDIUM und MAD. Und gerade mit MAD geht er sehr gefühlvoll um. Das wird nur verabreicht, wenn es trainingstechnisch sinnvoll ist und sich der Athlet auch entsprechend fühlt. Ansonsten ist Sutto – entgegen anders lautender Verschmähungen – ein sehr sensibles Kerlchen und bremst seine Pferdchen eher, als sie zu pushen. Anders als bei Rennpferden (die er ja auch lange studiert und trainiert hat), muss man Menschen oft bremsen, denn sie wollen oft zu viel zu schnell und verletzen sich. “Rennpferde machen einfach keinen Schritt mehr, wenn sie fertig sind”, sagt Sutto. “Da muss der Jockey brachial mit der Peitsche drauf hauen, sonst weiß ein Pferd einfach, wenn es eine Pause braucht und macht entsprechend langsamer.”

Mein Fazit zum Camp
Mein Eindruck der sieben Tage in der Höhenluft des Engadins war, dass Brett Sutton ein sehr gefühlvoller und intuitiver Mensch ist und sich schon daher von der Masse der Coaches in unserem Sport unterscheidet. Dazu hat er unendlich viel Erfahrung in unterschiedlichsten Kontexten. Er übernahm seine erste Schwimm-Gruppe im zarten Alter von 16 Jahren und hat seitdem nichts anderes gemacht, als Menschen (Schwimmen, Boxen, Triathlon) und Tiere (Pferde, Windhunde) zu trainieren. Anders als oft zitiert geht er extrem offen mit seinen „Geheimnissen“ (die natürlich keine sind) um und teilt alles freigiebig. Anders als vielfach diskutiert behauptet er nichts, was er nicht selbst getestet und für gut befunden hat. Und das meiste ist „Trial and Error“, gibt er offen zu. Gemixt mit seiner australischen Lockerheit und einem guten Sinn für Humor ist Sutto in meiner Wahrnehmung ein sehr angenehmer Mann. Sein „no nonsense approach“ wird vielen zu unwissenschaftlich daherkommen. Aber seine Ergebnisse sprechen für sich. Und ebenso unkonventionell wie sein Training ist auch das Thema Wettkampfeinsatz. Welcher Coach hätte schon den Mut, einen Schützling (Daniela Ryf) bei der 5150-Europameisterschaft in Zürich starten zu lassen und ihn dann am Tag darauf seinen ersten Ironman anzugehen? Wie wir alle wissen ist das Experiment mit einem Doppelsieg geglückt., nur um wenig später erneut die 70.3-Europameisterschaft mit einem Sieg zu feiern. Das nenne ich mal Selbstvertrauen, nicht nur beim Coach, sondern auch von der Athletin.

Selbstvertrauen heißt das Erfolgsgeheimnis
Und hier ist ein weiterer Unterscheidungsfaktor, den Sutto auszeichnet: Er ist in der Lage, seinen Athleten Selbstvertrauen in sich, ihre Fähigkeiten und das Training zu vermitteln. Ich kenne nicht allzu viele Menschen (auch außerhalb des Sports), die diese Fähigkeit in diesem Maße mitbringen.

Und hier noch drei Einheiten, die ich trotz langjähriger Triahtlonerfarhung noch nie so durchgezogen hat:

  • Schwimmen: Nach einem eher unkonventionellem Einschwimmen (“Warum Einschwimmen? Im Triathlon steht ihr doch auch oft leicht unterkühlt für weitere 20 Minuten am Start und müsst dann Vollgas losschwimmen, richtig?”) mit gleich mal 20×25m mit regelmäßigen Tempowechseln (hard/easy) kann der Hauptteil schon mal 9×300m bzw. 10x400m flott mit 15s Pause lauten. Das alles auch gern mit Paddles und Pull Buoy.
  • Radfahren: Eine interessante Einheit – speziell für die arbeitende Fraktion mit geringem Zeitbudget – lautet 20/20/20. Das heißt jeweils steigernd 20 Minuten in den drei „Sutto-Modi“ Moderate, Medium und Mad. Dann ist man mal eben eine Stunde auf dem Rad gesessen (wer macht das schon?), und wenn man es ordentlich gemacht hat, auch richtig bedient.
  • Laufen: Sicherlich die herausragende Trainingseinheit was das Thema “exotisch” betrifft, ist die Laufeinheit auf der Bahn: 54 Runden im Stadion bin ich noch nie auch nur annähernd gelaufen. Logisch, dass die ungefähr 21km nicht einfach stoisch im GA1-Tempo runtergewurstelt werden. Sie werden systematisch aufgeteilt in verschieden lange Strecken “hard” und dann wieder “easy”. Die Bahn hat daneben den Vorteil, dass es weitgehend standardisierte Bedingungen sind, man die 150 Meter (oder 200, 300, 400) exakt laufen kann, ohne sich selbst in die Tasche zu lügen und vor allem ermöglicht es ihm als Coach, all seine Schäfchen im Blick zu behalten und entsprechendes Feedback (wie beim Schwimmen) zu geben.
Text: Jörg Schneider

Jörg Schneider ist selbständiger Kommunikationstrainer, Vortragsredner und coacht ambitionierte Altersklassen-Athleten im Laufen und Triathlon. Man erreicht ihn unter js@jhschneider.de, www.joergschneidertraining.de oder www.der-ironman.de

Fotos: Ralf Graner und privat