Der erste Eindruck des Titelbildes mag eingefleischte Sebi-Freunde vielleicht abschrecken, zeigt es doch eher einen aggressiven, kampfbereiten und zähnefletschenden Athleten in der Morgendämmerung als einen freundlichen und stets gut gelaunten Triathleten, der durch konstant gute Leistungen in den letzten Jahren die Herzen der Fans im Sturm erobert hat.
Ungeduld, Reizbarkeit und Verplantheit bezeichnet Sebastian Kienle als seine großen Schwächen. In einer Karlsruher Studentenkneipe erzählt er bei einem großen Cappuccino „über sein zweites Ich“: Zu Schulzeiten musste sein Vater regelmäßig bei den Lehrern vorsprechen und sich die Ermahnungen über seinen „auf die Palme gehenden Sohn“ anhören. „Durch den Leistungssport habe ich mittlerweile die Reizbarkeit ziemlich gut in den Griff bekommen. Lediglich im Wettkampf kommt es vor, dass ich ausraste, wenn mir jemand quer kommt oder bewusst Regeln missachtet“, gibt Kienle zu. Mit einer kleinen Ausnahme: Kurz vor seinem Sieg beim Ironman 70.3 in Miami, Ende Oktober vergangenen Jahres musste Sebastian nach der Ankunft im Hotel unmittelbar nach Öffnen seines Radkoffers zur Beruhigung erst einmal ein Eisbad nehmen. Die Tatsache, seinen Sattel inklusive Sattelstütze und die Batterie für seine Di2 zu Hause vergessen zu haben, trieb ihm die Zornesröte über seine „eigene Dummheit“ ins Gesicht. Glücklicherweise weiß seine langjährige Freundin mit solchen Situationen umzugehen. „Aber auch unmittelbar vor dem Startschuss brauche ich eine gewisse Anspannung. Dieses innere Knistern, vergleichbar mit einem Luftballon kurz vor dem Zerplatzen, ist für mich extrem wichtig. Würde ich völlig entspannt ins Rennen gehen, so wie letztes Jahr in Roth, wird es meistens nichts.“ Berücksichtigt man jedoch, dass der Physikstudent – nach seiner international viel beachteten Langdistanzpremiere (Challenge Roth 2010: 7:59:06 Stunden) – auch bei seinem zweiten Auftritt im Frankenland das Ziel im Rother Stadtpark deutlich unter der magischen Schallmauer von 8:00:00 Stunden erreichte, klingt diese Aussage auf den ersten Blick eher widersprüchlich. „Eine Marathonzeit von 2:50 Stunden ist einfach zu wenig, um ganz vorne mitspielen zu können“, gibt Kienle seine Marschroute für die laufende Saison vor. „Letztes Jahr war ich Mitte Mai in einer optimalen Verfassung … und die Challenge Roth für mich leider sechs Wochen zu spät.“ Hätte, wäre, wenn! Sebastian Kienle wäre nicht Sebastian Kienle, wenn er nicht nur seine eigene Leistung im Rennen, sondern auch das Drumherum selbstkritisch analysieren und objektiv bewerten würde.
Auch wenn Sebastian Kienles
großes Ziel immer die Langdistanz war, durchlief er in den Anfangsjahren seiner Karriere den klassischen Weg: Sprint- und Kurzdistanzen im Duathlon und (Cross-) Triathlon. Durch zahlreiche Meistertitel auf Landes- und Bundesebene machte der für das Tri-Team Heuchelberg startende Athlet bereits früh auf sich aufmerksam, jedoch sagte der damals 22-Jährige – trotz des deutschen U23-Titels im Gepäck – seine Teilnahme an der WM in Lausanne ab, weil er der Überzeugung war, dort trotz ausgewiesener Radstärke nichts erreichen zu können, wenn er erst mit der zweiten oder dritten Gruppe aus dem Wasser steigen würde. „Zunächst war diese Selbsterkenntnis für mich schon ernüchternd, dass in einem Rennen mit Windschattenfreigabe auf internationalem Parkett mein Talent in der Auftaktdisziplin für eine gute Ausgangsposition einfach nicht ausreichte, um am Ende ganz vorne mitlaufen zu können“, gibt Kienle zu, blickt jedoch keineswegs bedrückt auf diese Erfahrung zurück. Fortan arbeitete er gemeinsam mit seinen Trainern an der Optimierung der Schwimmperformance. „Zu sagen, ich kann nicht schwimmen, wäre doch viel zu einfach und ist der Anfang vom Ende. Du musst schon an deinen Schwächen arbeiten, um das maximal Mögliche herauszuholen. Dabei ist im Training die richtige Balance wichtig, schließlich spielt sich beim Schwimmen sehr viel in den Köpfen der Athleten ab“, merkt Kienle an. Von da an nahm Sebastian Kienles Metamorphose zum Langdistanztriathleten seinen Lauf … und er ließ sich dabei Zeit. Kienle verurteilt die Sportler, die das Absolvieren eines Ironman oder Challenge in nur einem Jahr abhaken und sich von ihrem Umfeld feiern lassen. „Das sind für mich keine richtigen Triathleten. Das langsame Herantasten an die längeren Distanzen und das Ausreizen der eigenen Leistungsfähigkeit ist doch gerade das Schöne an unserem Sport“, gibt Kienle zu bedenken. „Zu spüren, wie Körper und Geist mit jeder Trainingseinheit sich verändern und man mit jedem Finish Erfahrungen für das große Ziel Langdistanz sammeln darf. All dies geht doch bei einem von „0 auf 226“ verloren. Ich kann die Leute beim besten Willen nicht verstehen.“ Ein Blick auf die Vita des fast 28-Jährigen unterstreicht diese Aussage.
Sebastian Kienle beschäftigt sich
sehr intensiv mit seinem Material. Wenn er sich für einen Partner entscheidet, dann steht er voll und ganz hinter dem Produkt und ist der festen Überzeugung, dass die Produkte ihm dabei helfen, besser zu werden. Allerdings bringt er das eine oder andere Mal selbst seine Sponsoren teilweise „um den Verstand“, wenn er alles mögliche ausprobiert, um auch das letzte Quäntchen an Gewicht oder Aerodynamik auszureizen. Wenn er eine Idee nicht zeitnah umsetzt, wirkt sich dieses Versäumnis auf seine mentale Verfassung aus. Während eines Wettkampfes würde er sich dann selbst die meisten Vorwürfe machen, nicht alles technisch Mögliche versucht zu haben. Die Vergangenheit scheint ihm gerade auf seiner Paradedisziplin, dem Radfahren, Recht gegeben zu haben, hält er doch nahezu bei allen Rennen den Radrekord. Drei Plattfüße und ein Kettenriss in siebzehn Jahren Leistungssport sind ein weiteres Zeichen, dass Kienle sowohl im Training als auch im Wettkampf nichts dem Zufall überlässt. Lediglich der Kettenriss bei der Xterra WM auf Maui war selbstverschuldet, hatte er vergessen, den Nietstift zu tauschen. „Glücklicherweise blieb ich in dem Moment sehr ruhig. Außerdem war auch keine Klippe in Sicht, wo ich das Mountainbike hätte herunterwerfen können“, lacht Kienle eineinhalb Jahre nach seinem Missgeschick. Im Gegensatz zum Material bezeichnet sich Sebastian hinsichtlich seiner Trainingsdokumentation als eher schlampig, selbst auf den Gebieten der Ernährung und des Trainings hat er eine eher laxere Einstellung als viele seiner Profikollegen. Eine strikt einzuhaltende Diät oder einen Ernährungsplan gibt es im Hause Kienle nicht, stattdessen achtet er auf die Signale seines Körpers. So kann es auch vorkommen, dass er eine Trainingseinheit einfach verkürzt oder kurzerhand ausfallen lässt, wenn ihm absolut nicht danach ist, mit einer Ausnahme: die Schlüsseleinheiten.
Sebastian Kienle gibt zu,
dass ihm das Eingestehen von Schwächen und deren Behebung im Sport weitaus leichter fällt als im privaten Umfeld oder beim Studieren und lenkt dabei das Gespräch geschickt auf die mentale Vorbereitung wichtiger Rennen. Im Gegensatz zu vielen Mitstreitern geht er an den Tagen vor dem entscheidenden Rennen dieses beim Einschlafen gedanklich nicht durch. Er würde dann mit 150 Puls senkrecht im Bett stehen und käme vor innerer Anspannung und Vorfreude definitiv nicht zur Ruhe. Stattdessen visualisiert er die in den Wechselzonen zu absolvierenden Wege und den Standort seines Rades und bringt diese Bilder beim Warmfahren auf der Rolle mit den geplanten und im Training geübten Abläufen in Einklang: Die kurze Phase des Tunnelblicks auf das unmittelbar bevorstehende Rennen hat begonnen. „Für jemanden, der im Wasser wertvolle Zeit auf seine direkten Konkurrenten verliert, zählt auch auf den längeren Distanzen bei den Wechseln jede Sekunde“, gibt Kienle zu bedenken und ergänzt, dass er auch negative Ereignisse und deren Lösungen visualisiert, wie beispielsweise Reifenwechsel oder Magenprobleme. So schlug beim Ironman Arizona im November letzten Jahres während seiner Aufholjagd auf dem Rad der Pannenteufel zu. Die nötigen Handgriffe gingen ihm zwar zügig von der Hand, trotzdem musste Kienle erneut dem Feld hinterherfahren, um im weiteren Verlauf des Rennens völlig ausgepowert an einer Verpflegungsstelle anzuhalten. Erinnerungen an sein allererstes Trainingslager auf Mallorca kamen hoch, als er mit null Vorbereitungskilometern bereits am dritten Tag eine 200-Kilometer-Runde mitfuhr, jedoch das Essen vergaß und irgendwann Schlangenlinien fuhr. Aber aussteigen kam für Sebastian bei seinem ersten Ironman nicht in Frage. „Der Energietank sollte immer voll sein, aber meiner war es definitiv nicht,“ erklärte Kienle seine Entscheidung für den ungeplanten Zwischenstopp. „Ich nahm mir die Zeit, aß und trank also so viel, wie in meinen Körper passte. Heute bin ich froh, dass ich dieses Rennen beendet habe und nicht ausgestiegen bin. Es geht immer weiter, irgendwie! Und genau diese Erfahrungen machen dich für das nächste Rennen umso stärker!“
In schwierigen Zeiten
und einem Wechselbad der Gefühle den Kopf in den Sand zu stecken und anderen die Schuld für das eigene Versagen in die Schuhe zu schieben ist einfach, die Ursachen zu finden und notwendige Veränderungen vorzunehmen, ist jedoch weitaus schwieriger. Jemand, der damit nicht umgehen kann, sollte sich jedoch schnellsten davon verabschieden, im Club der ganz Großen mitspielen zu wollen. Der deutsche Senkrechtstarter der letzten Jahre hat in den Wochen nach dem „Tiefpunkt“ seiner Karriere aktiv Ursachenforschung betrieben und dabei aber immer wieder festgestellt, dass das Feuer in ihm lichterloh brennt.
Passend zur Songzeile des Rappers 50 Cent „the top feels so much better than the bottom“ gehören Rückschläge zum Reifeprozess eines Athleten von Weltniveau.
Sein großes Ziel, eine Platzierung unter den Top-10 bei den Ironman-Weltmeisterschaften auf Hawaii zu erreichen ist – auch wenn die Luft im Schatten eines Craig Alexander und Andreas Raelert sehr dünn ist – mehr als realistisch.
Text: Klaus Arendt
Fotos: Armin Schirmaier | Ralf Graner | Silas Stein
Quelle: tritime (Ausgabe 3|2011)