Uli Nieper spricht im Interview über Überlastungsschäden, die Einnahme von Schmerzmitteln, Verletzungspausen, Körpergefühl und regelmässiges Dehnen.
Die Saison 2015 läuft auf Hochtouren, während die einen noch nach der richtigen Form suchen, haben andere in der Vorbereitungsphase ihrem Bewegungsapparat viel zu viel zugemutet. Übertraining und Verletzungen im Bewegungsapparat sind die Folge. Grund genug, den erfahrenen Orthopäden und erfolgreichen Triathleten Uli Nieper zu befragen.
Herr Nieper, ein Altersklassenrekord jagt den nächsten. Welche Rolle spielt das kalendarische Alter, welche Rolle das Trainingsalter? Wie sehr belastet eine Langdistanz jenseits der 50 Jahre den Organismus und den Bewegungsapparat?
Ulrich Nieper: Klar ist, dass Leistungen wie eine Langdistanz mit über 50 Jahren keine Seltenheit und auch nicht zwangsweise eine gefährliche Belastung sind. Entscheidend für solch lange Rennen sind die Vorbereitung, das Trainingsalter sowie das persönliche Talent. Je früher im Leben die Grundlagen gelegt werden, desto mehr profitiert ein Sportler auch im Alter von den gut ausgebildeten konditionellen Fähigkeiten. Ab dem 40. Lebensjahr sollten sich Athleten längere Regenerationsphasen gönnen, damit es im Training sowie zwischen Wettkämpfen nicht zu Überlastungsschäden kommt. Erste Anzeichen für Übertraining, wie ein erhöhter Ruhepuls, sollten ernst genommen werden, um damit häufig einhergehende Verletzungen von vornherein zu vermeiden.
Immer wieder ist von Sportlern zu hören, die bereits vor Wettkämpfen Schmerzmittel einnehmen. Wann ist es Zeit, eine Pause einzulegen, und wie weit darf man sich „quälen“? Sind Schmerzmittel eine Lösung?
Ulrich Nieper: Schmerzmittel in Verbindung mit Sport sind definitiv keine Lösung. Wer Schmerzen verspürt, sollte zunächst untersuchen lassen, wo der Ursprung der Beschwerde sitzt. Nach einer gründlichen Anamnese kann man meist schon die Quelle des Schmerzes ausfindig machen und entsprechend behandeln. Dabei gilt grundsätzlich: Je früher interveniert wird, desto eher kann das Training wieder aufgenommen werden. Die Einnahme von Schmerzmitteln, ob prophylaktisch oder aufgrund einer akuten Einschränkung, ist in Kombination mit Sport kontraproduktiv und sehr gefährlich.
Wie sollte bei einer akuten Verletzung das unmittelbare Vorgehen aussehen? Ist die PECH-Regel immer noch erste Wahl? Was hilft noch?
Ulrich Nieper: Die PECH-Regel ist als Akut-Behandlung nach wie vor die erste Wahl sowie für jeden einfach zu merken und anzuwenden. Pausen schonen das verletzte Gewebe. Die Kühlung, zum Beispiel durch Eis, Kompression (C) und das Hochlagern der betroffenen Körperpartie, lindert die Schwellung. Danach entscheidet der Arzt, welche weiteren Maßnahmen ergriffen werden. Je nach Verletzungsart können sehr unterschiedliche Wege zur Heilung führen. Hausmittel und sonstige Behandlungsmethoden sollten in jedem Fall mit dem Arzt abgesprochen werden, um den schnellen und reibungslosen Heilungsprozess nicht zu gefährden.
Wie sieht der ideale Wiedereinstieg nach einer längeren Verletzungspause aus? Ab wann ist an den nächsten Wettkampf zu denken (ein normaler Heilungsprozess vorausgesetzt)?
Ulrich Nieper: Wer verletzungsbedingt sechs Wochen ausfällt, benötigt im Laufen häufig wieder ziemlich genau sechs Wochen, um das Leistungsniveau von vor der Verletzung zu erreichen. Vorausgesetzt, man hat das Training auch tatsächlich erst dann wieder aufgenommen, nachdem die Verletzung ganz ausgeheilt war. Das entspricht einem Trainingsrückstand von 12 Wochen. Für die Wettkampfplanung kann das umgekehrt bedeuten: Wettkampf ausfallen lassen oder die Zielsetzung ändern. Vor einer langen Distanz muss sich aber jeder darüber im Klaren sein, dass auch eine längere Zielzeit eine Form hoher Belastung ist.
Der Wettkampf ist überstanden, die neue Bestzeit geknackt. Erholung im warmen Whirlpool oder im Kältebecken? Hilft ein Saunagang?
Ulrich Nieper: Der ein oder andere kennt das Bild von Athleten aus den US-Profiligen, die ihre Beine nach einem Spiel in Eimer voller Eis stecken. Der Trend zur Kälte wird derzeit auch von zahlreichen europäischen Fußball-Klubs verfolgt, in Form von Kältebecken. Heiß oder kalt, es gibt unterschiedliche Ansichten, Studien und Ergebnisse. Sicher ist: Beide Formen der Regenerationsunterstützung haben ihre Berechtigung. Nicht zu vernachlässigen ist das individuelle Köpergefühl. Jeder Athlet sollte selbst entscheiden, was ihm nach einem harten Wettkampf guttut. Schließlich geht man ja vom Start bis zur Ziellinie bereits an seine Grenzen, da soll die Nachbereitung nicht auch noch zur Belastung werden. Wer die Kälte verträgt, kann dies nutzen. Ansonsten helfen aber auch der warme Whirlpool oder die finnische Sauna, um den Regenerationsprozess zu beschleunigen.
Dehnen als Verletzungsprophylaxe ‒ kaum ein Thema ist umstrittener als das Dehnen/Stretching: Wem hilft es, wem nicht oder ist es gar egal?
Ulrich Nieper: Eine konkrete Regel lässt sich zu diesem Thema tatsächlich nicht aufstellen. Für Athleten mit einem hohen Trainingspensum gehören Dehnen und Stretching aber definitiv zur Trainingsgestaltung. Die sehr hohe Beanspruchung des Muskelgewebes erfordert neben Kraft-, Ausdauer- und Koordinationstraining auch entsprechende Beweglichkeitsübungen, um eine kontinuierliche Leistungsverbesserung zu erreichen. Wie hoch der Anteil des Flexibilitätstrainings ausfällt, ist individuell zu gestalten. Denn aus anatomischer Sicht gibt es große Unterschiede, wie beweglich ein jeder von uns ist. Vor allem Athleten, die häufig an Sehnen, Bändern oder Muskelverletzungen leiden, profitieren stark vom regelmäßigen Dehnprogramm.
Faszientraining, Ergänzungstraining und Functional Training: Es gibt unzählige Möglichkeiten, sein Training zu erweitern. Wie hoch sollte bei allem Engagement der Anteil der Kernsportart und der daraus resultierenden Trainingsformen sein, um gesund aber auch erfolgreich zu sein?
Ulrich Nieper: Während Profis genügend Freiräume für das Ergänzungstraining haben, fällt es ambitionierten Hobbysportlern meist schwer, neben den Kernelementen ihrer Sportart ausgiebig Ausgleichssportarten zu betreiben. Der Verzicht ist zwar keine Lösung, aber der Anteil der alternativen Trainingsformen kann auf einen kleinen Prozentsatz reduziert werden. Sinnvoll sind Trainingserweiterungen dennoch, weil durch eine unbekannte oder zumindest wenig regelmäßig ausgeführte Bewegungsform sich das Muskelgewebe stets an die andersartige Belastung anpassen muss. Das schlägt sich in einer geringeren Verletzungsanfälligkeit und einem langfristig höheren Leistungspotenzial nieder. Nichtsdestotrotz: Die Trainingsformen der Grundsportart verdienen den größten Teil der Aufmerksamkeit.
Herr Nieper, herzlichen Dank für Ihre ausführlichen Antworten.
Uli Nieper ist niedergelassener Facharzt in einer Münchener Gemeinschaftspraxis. Seine Schwerpunkte liegen auf den Gebieten der Sportorthopädie und Sportmedizin für Orthopädie, mit einem besonderen Augenmerk auf arthroskopische Operationen an Knie und Schulter. Der frühere Mannschaftsarzt der SpVgg Unterhaching betreibt Triathlon seit 1988. Nieper, mehrfacher Deutscher Meister der Ärzte im Triathlon, kommt auf insgesamt zehn Teilnahmen bei den Ironman Weltmeisterschaften auf Hawaii.