Die Laufszene, anfänglich von in Vereinen organisierten und bestzeitenorientierten Hardcore-Läufern geprägt, hat sich in den vergangenen 30 Jahren massiv verändert. Das Laufen ist zum Volkssport geworden, und die Schuhe werden aus den unterschiedlichsten Motivationen geschnürt. Es wird nicht nur auf der Straße, im Leichtathletikstadion oder im Wald gelaufen, mittlerweile haben sich Trends wie Triathlon, Trail, Urban und Mud etabliert. Im Gegensatz zu früher können nicht mehr 80 Prozent der Läufer mit nur drei Modellen im Regal bedient werden, die Kombination der unterschiedlichen orthopädischen und körperlichen Voraussetzungen eines jeden Einzelnen wirkt sich auch auf die Vielfalt des Sortiments aus.
Waren Laufbandanalysen zum Millennium zur Findung des persönlichen Idealschuhs noch die Ausnahme, werden im Rahmen der Beratung bereits Systeme eingesetzt, mit deren Hilfe die Füße dreidimensional gescannt und ausgewertet werden (Bewegungsanalytik). Mit welchem Aufwand Laufschuhhersteller die Möglichkeiten der eingesetzten Materialien auszureizen versuchen, zeigen jüngste Beispiele im Unterbieten von „Schallmauern“. Asics beispielsweise untersuchte im Vorfeld des Weltrekordversuchs der japanischen Marathon-Olympiasiegerin von Sydney, Naoko Takahashi, den Asphalt der Berliner Strecke, auf deren Grundlage dann unterschiedliche Gummimischungen entwickelt wurden, auch für alle denkbaren Wetterkonstellationen. Mit mehreren Dutzend verschiedenen Laufschuhvarianten im Gepäck reiste Takahashi 2001 nach Berlin und blieb als erste Frau knapp unter der damaligen Schallmauer von 2:20 Stunden. Erst unmittelbar vor dem Startschuss entschieden sich die Verantwortlichen, welches Modell mit welcher Materialzusammensetzung zum Einsatz kommen sollte.
Auch wenn dieser Aufwand auf dem ersten Blick übertrieben erscheint, zeigt das Beispiel – ähnlich wie beim Motorsport in der Formel 1 – das Ausreizen der technischen Möglichkeiten der zur Verfügung stehenden Materialien auf, mit denen für unterschiedliche Rahmenbedingungen der „perfekte“ Laufschuh entwickelt werden kann. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass das heutige Produktportfolio weitaus größer ist als in den Neunzigern. Und damit Sie in diesem vermeintlichen Heuhaufen auch Ihre ganz persönliche Stecknadel finden, geben wir Ihnen einige nützliche Tipps zu den von Herstellern angepriesenen Funktionen und eingesetzten Materialien. Denn nichts wäre schlimmer, als den neuen Laufschuh ausschließlich nach der Optik, den sportlichen Vorbildern oder gut gemeinten Ratschlägen der Trainings- oder Vereinskollegen auszusuchen.
Gut zu Wissen
Innen- und Obermaterialien
Luftiges und atmungsaktives Mesh lässt einen die schweren und teilweise „sperrigen“ Ledermaterialien vergangener Zeiten schnell vergessen. Allerdings sind die meisten neuen Oberflächen in aller Regel nicht wasserabweisend und bieten vor Kälte und Nässe so gut wie keinen Schutz. Ein Abtasten des Schuhinneren gibt Aufschluss darüber, ob die Innennähte sauber verarbeitet sind oder „Stoffreste“ den Wohlfühlfaktor mindern und zu Druck- und Scheuerstellen führen können.
Reflektoren
Reflektoren im Fersen- und Vorfußbereich, an den Außenseiten und zum Teil auch im Schnürsystem tragen beim Laufen in der Dunkelheit zur Sicherheit und Sichtbarkeit bei.
„Die Sohle definiert den Laufschuh, macht seinen Charakter aus. Leicht und dennoch komfortabel mit angemessener Dämpfungskapazität. Hohe Federkonstanten bringen das Material und damit die Sohle nach jedem Schritt zurück in die Ausgangsform und sorgen für eine gleichmäßige und dauerhafte Dämpfung während des gesamten Laufs. Zudem wird die Lebensdauer der Mittelsohle deutlich verlängert. Unterschiedliche Dämpfungssysteme interagieren in Verbindung mit der Mittelsohle mit dem Läufer. Die Nuancen sind individuell wichtig. Passt die Reaktivität nicht mit dem Laufstil und der Resonanzfrequenz mancher Läufer zusammen, wird der Impact dadurch verstärkt, sodass die Muskulatur mehr Energie investieren muss, um dies zu kompensieren.“
Stützen | Minimalisten
Ist weniger tatsächlich mehr? Laufschuhe mit einem minimalistischen Dämpfungs- und Stabilisationskonzept sind extrem leicht, flach, abrollfreudig und sorgen aufgrund ihres direkten Bodenkontaktes auch für ein dynamisches und natürliches Abrollverhalten. Sie sind bestens geeignet für Straße und Bahn, prädestiniert für die Laufschule, Steigerungsläufe und kurze Tempoeinheiten beziehungsweise kurze Wettkämpfe bis maximal zehn Kilometer. Jedoch sollte man immer bedenken, dass die Minimalisten aufgrund von fehlenden Stützen nahezu keinerlei orthopädische Fehlstellungen erlauben. Sportler, die zu viel auf einmal möchten, riskieren Überbelastungen und Verletzungen.
Fersenkappe
Eine passgenaue feste Fersenkappe sorgt für einen festen Halt und ist eine Grundvoraussetzung für eine effiziente Laufbewegung. Jedoch sollte das Material die Achillessehne seitlich nicht zu hoch umschließen, ansonsten können bei Sockenverweigern an diesen Stellen Scheuerstellen entstehen.
„Nichts ist schlimmer, als in zu eng oder locker geschnürten Laufschuhen eine Trainingseinheit oder einen Wettkampf zu absolvieren. Ein ungenaues Fixieren des Schnürsystems kann den Läufer aus dem Rhythmus bringen. Je nach Dicke der Sportsocken, der Qualität des Obermaterials und der Schnürbandart dauert es eine Weile, bis man die ideale ‚Einstellung‘ gefunden und den Halt des Fußes sichergestellt hat. Gerade im Wettkampf, wenn es beim zweiten Wechsel schnell gehen soll, helfen Schnellschnürsysteme oder elastische Schnürsenkel, teilweise auch mit zahlreichen kleinen Knoten. Aus diesem Grund verwenden viele Athleten – wie beim Radschuh – einen Drehverschluss (mit Schnürseil), mit dem der Schuh millimetergenau fixiert werden kann.“
Torsion
Dabei handelt es sich um die Bewegungsfreudigkeit des Schuhs zwischen dem Ballen und der Ferse. Sie ist die Basis für einen entspannten und effizienten Laufstil. Integrierte Mittelfußbrücken gewährleisten Athleten mit orthopädischen Fehlstellungen eine bessere Führung und mehr Komfort.
„Pronation: Je weniger Korsettstrukturen in einen Laufschuh eingearbeitet sind, desto besser kann der Läufer die Gesamtvorwärtsbewegung durch den Fuß mit dem Werkzeug Schuh dynamisch ausführen. Extreme Fehlstellungen sowie Verletzungen benötigen allerdings eine orthopädische Hilfestellung.“
Sprengung
Darunter versteht man die Höhendifferenz zwischen dem Vorfuß- und Fersenbereich. Lightweight-Schuhe weisen in aller Regel eine geringe Sprengung auf, an die man sich „Schritt für Schritt“ herantasten sollte, auch um Überbelastungen und Verletzungen vorzubeugen.
Einstiegshilfen
Schlaufen an der Ferse sowie Öffnungen beziehungsweise Wulste an der Zunge sind nützliche Details zur Unterstützung eines schnellen zweiten Wechsels, vorausgesetzt die effizienten Einstiegshilfen sind groß genug und lassen sich auch bei Hektik und schlechtem Wetter gut greifen. Ansonsten helfen Puder, Vaseline oder die Finger.
Drainage-Öffnungen
Die dahinterliegende Idee, das im Schuh befindliche Wasser durch die Sohle nach außen zu drücken, ist durchaus nachvollziehbar und verständlich. Jedoch ist es mehr als ärgerlich, dass man auch bei feuchtem Untergrund schneller nasse Füße bekommt. In den Löchern verhaken sich auch gerne kleine spitze Steinchen mit unangenehmen Folgen für den Fuß. Waren Drainage-Öffnungen vor Jahren bei fast allen Lightweight-Schuhen ein Must-have, so findet man dieses Feature mittlerweile immer weniger.
Einlagen
Benötigt ein Läufer orthopädische Einlagen, so sollten diese auf Basis einer professionellen Beratung individuell angefertigt werden, auch unter Berücksichtigung eventuell erforderlicher Einlagen für das Radfahren.
Gewicht
Gewicht ist nicht alles. Je leichter und minimalistischer ein Laufschuh ausgestattet ist, desto schneller riskieren Athleten mit orthopädischen Fehlstellungen gerade bei längeren Einheiten Überbelastungen und Verletzungen.
Schuhgröße
Die Zehen sollten im Vorfußbereich genügend Platz haben. Als Faustregel gilt: die Breite des Zeigefingers an der großen Zehe. Zu schmal geschnittene Schuhe im Vorfußbereich schränken das Lauferlebnis und den Wohlfühlfaktor ein. Ansonsten besteht auch ein Verkrampfen der Fuß- und Wadenmuskulatur.
Körpergewicht
Athleten jenseits der 85 Kilogramm sollten – auch im Hinblick auf das Verletzungsrisiko – darauf achten, je nach Trainingsziel und Distanz entsprechend stabile und nicht zu minimalistisch ausgestattete Laufschuhe zu tragen.
„Jeder Läufer hat seinen individuellen Laufstil und benötigt aus diesem Grund auch entsprechende Schuhe für Training und Wettkampf.“
Laufberatung | Video-Laufanalyse
Eine professionell durchgeführte Laufanalyse zeigt nicht nur Kompetenz, sondern auch Kundennähe. Das Ergebnis zeigt Unterschiede zwischen verschiedenen Modellen auf und kann somit bei der Kaufentscheidung helfen, allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Laufstil auf dem Laufband ein anderer ist als draußen in der Natur.
Frauenlaufschuhe
Frauen sollten grundsätzlich in auf die Anatomie der Frau ausgerichteten Frauenlaufschuhen trainieren und Wettkämpfe bestreiten.
Text: Klaus Arendt
Foto: Christopher Mayer | Zentrum für Bewegungsanalytik